Weihnachten
und Silvester 1945
Ostern 1946
Wiederaufbau
Schützenfest 1947
Der Badekump
Lehrer Trumm
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kompletten Inhaltsverzeichnis
Weihnachten
und Silvester 1945
(...) Der Nikolaustag rückte immer näher, und ich war in diesen
Tagen ungewöhnlich still, sodass meine Mutter sich schon wunderte.
Die ganze Zeit überlegte ich, wie das bevorstehende fürchterliche
Ereignis abzuwenden sei, und kam zwei Tage vor dem Nikolaustag auf die
Lösung: Ich wurde einfach krank! Ab sofort begann ich zu husten
und mich über Kopfschmerzen zu beklagen.
Als der fragliche Abend dann gekommen war und der Nikolaus mit seinem
Gehilfen die Treppe heraufpolterte, rief ich, schon bevor die Türe
sich öffnete, mit hoher, ängstlicher Stimme: »Ich bin
krank, ich bin krank!« und verkroch mich auf dem Sofa unter einer
Decke. Als der Nikolaus meine Angst sah, beließ er es für
dieses Mal bei einigen Ermahnungen.
Der schreckliche Knecht Ruprecht rasselte nur ein wenig mit den Ketten
und dem Sack, aus dem das Bein eines sicher sehr bösen Jungen herausragte.
Die Tüten mit Süßigkeiten, Nüssen und Äpfeln
musste Thea für uns beide vom Nikolaus entgegennehmen. Vor lauter
Angst war ich nicht dazu in der Lage, erholte mich aber erstaunlich
schnell und machte mich über die Tüte her, kaum dass der Nikolaus
mitsamt seinem Helfer verschwunden war.
In der Adventszeit wurde jeden Sonntag nach Einsetzen der Dämmerung
eine Kerze mehr am Adventskranz angezündet, bis am letzten Sonntag
vor Weihnachten alle vier Kerzen brannten. Für jeden von uns lag
im Backofen dann ein Bratapfel, der mit Zimt und Zucker bestreut wurde.
Der Zimtduft vermischte sich mit dem Geruch der Kerzen und der Tannenzweige
des Adventskranzes. Solange die Kerzen brannten, wurden Advents- und
Winterlieder gesungen, und das war so schön, dass mir wieder mal
die Tränen in die Augen stiegen.
Fredeburg
im Winter, Aufnahme von 1961
Jede Familie in der Stadt konnte sich einen Tag vor Weihnachten am Forsthaus
kostenlos einen Weihnachtsbaum abholen. Das war immer eine aufregende
Sucherei, bis alle den passenden Baum gefunden hatten und ihn auf einem
Schlitten mit nach Hause nahmen. Am Heiligabend wurden meine Schwester
und ich dann am späten Nachmittag ins Bett gesteckt, um schon mal
vorzuschlafen, aber dazu waren wir viel zu aufgeregt. Wir warteten auf
das Ertönen des Glöckchens, weil dann das Christkind da gewesen
war und nun endlich die Bescherung begann.
In der Küche stand der wunderschön geschmückte Weihnachtsbaum
mit silbernen Kugeln, silbern glitzerndem Lametta und vielen brennenden
Kerzen, und es duftete, wie es nur Weihnachten duften kann. Unsere Mutter
las aus der Bibel die Geschichte von der Geburt des Christkindes vor,
und dann wurde Stille Nacht, heilige Nacht gesungen. Aber ich konnte
mich spätestens bei der zweiten Strophe schon nicht mehr auf den
Text konzentrieren, weil ich in Richtung des Baumes schielte, unter
dem geheimnisvolle Päckchen lagen. ´(...)
Spät in der Nacht, nachdem wir unseren Weihnachtsteller gründlich
geplündert hatten, marschierten wir gemeinsam zur Kirche, wo schon
alle Glocken läuteten und die Christmette um Mitternacht begann.
Meine Schwester und ich gingen nach vorn zu den Kinderbänken, wo
schon viele Kinder versammelt waren und sich leise über ihre Weihnachtsgeschenke
unterhielten. (...)
[nach
oben]
Ostern
1946
(...) Am
Aschermittwoch gingen wir alle zur Kirche, um uns das Aschenkreuz auf
die Stirn machen zu lassen, und damit begann die sechswöchige Fastenzeit.
»In dieser Zeit darf man keine Süßigkeiten essen, und
an jedem Freitag wird gefastet«, wurden wir von unserer Mutter
belehrt. »Aber es ist ja sowieso kaum etwas zum Essen aufzutreiben,
darum wird sich auch nicht viel ändern.«
Ab Gründonnerstag läuteten die Kirchenglocken nicht mehr.
»Die sind nach Rom geflogen«, hieß es, »die
kommen erst in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag zurück.«
Was mit den Glocken in Rom angestellt wurde, war mir nicht so ganz klar.
Tatsache aber war, dass sie nicht mehr zu hören waren. Stattdessen
zogen die Messdiener in Reih und Glied, jedoch ohne die sonst üblichen
Gewänder in normaler Kleidung durch die Stadt und veranstalteten
mit ihren so genannten Tarren (Klappern aus Holz) ein lautes, sonderbares
Geräusch im Rhythmus ihrer Schritte. Rrr rrr rrr rrr rrr ... hörte
man am Morgen, am Mittag und am Abend anstelle des sonst üblichen
Läutens.
Rrr
rrr rrr rrr... scholl es ab Gründonnerstag dreimal am Tag in Fredeburg.
Dann zogen die Meßdiener mit ihren Tarren weiter.
In der
Osternacht erklangen aber alle Glocken wieder wie gewohnt zur Auferstehungsmesse,
die feierlich in der Kirche gelesen wurde. Am Schluss wurden Feuer und
Wasser geweiht, und jeder entzündete an dem Feuer ein Windlicht
und nahm es mit nach Hause, um damit das Herdfeuer anzuzünden.
Die Gläubigen nahmen auch von dem gesegneten Wasser einige Flaschen
mit, damit sie das ganze Jahr genügend Weihwasser im Hause hatten.
Am Karsamstag hatten meine Schwester und ich im Wald ein wenig Moos
gesammelt und für jeden im Garten ein Nest gebaut. Nun, am Morgen
des Ostersonntages, stürmten wir,kaum dass wir richtig angezogen
waren, die Treppe hinunter in den Garten, um nachzusehen, ob der Osterhase
unsere Nester auch gefunden hatte. Und tatsächlich, darin lagen
bunt gefärbte Eier und einige Süßigkeiten, die wir in
die Taschen unserer Schürzen steckten. Unserer Mutter zeigten wir
aufgeregt, was uns der Osterhase gebracht hatte.
Auf den Feldern außerhalb von Fredeburg wurden am ersten Ostertag
drei große Feuer angezündet. Verantwortlich dafür waren
die jeweiligen Stadtteile Altstadt, Unter- und Oberstadt. Wir Kinder
hatten schon während der Fastenzeit viele Baumäste und Reste,
die beim Holzfällen übrig geblieben waren, aus dem Wald in
Form von so genannten Bunden zu den vorgesehenen Feuerstellen geschleppt.
Für jeden war es Ehrensache, so viele Bunde wie möglich abzuliefern.
Aufbau
des Fredeburger Osterfeuers in den 1930er Jahren
Am Gründonnerstag wurde die Menge der Bunde dann festgestellt,
und es gab für je fünf eine Zuckerbrezel. Die Brezeln wurden
auf einem Stock aufgereiht und stolz mit nach Hause genommen. Karsamstag
begannen dann viele Helfer damit, die Osterfeuer aufzubauen. Zunächst
wurden vier etwa 10 Meter hohe Fichtenstämme in einem Quadrat von
ungefähr 3 mal 3 Metern aufgestellt, untereinander mit Streben
aus Holz fest verbunden und mit dem Brennmaterial gefüllt, das
wir Kinder gesammelt hatten. Diese großen Türme wurden immer
erst am Nachmittag des Ostersonntages fertig gestellt.
Die jungen Burschen hatten in der Karwoche ihre großen Fackeln
hergestellt. Sie bestanden aus ölgetränkten Lumpen, die um
das Ende von langen Stöcken gewickelt waren, und lagen nun zum
Einsatz bereit. Sobald von der Kirche Glockengeläut zu vernehmen
war, wurden die Feuer alle gleichzeitig angezündet. Es kam dabei
darauf an, die Holztürme so schnell wie möglich von oben nach
unten an allen vier Seiten zu entzünden, um ein schönes, gleichmäßiges
Abbrennen zu erreichen. Vom Burgberg, der mitten in Fredeburg lag, waren
alle drei Osterfeuer zu bewundern. Tagelang wurde noch erbittert darum
gestritten, welcher Stadtteil das schönste Feuer abgebrannt hatte.
(...)
Aus
Heinz Hellmich "Mit Zimt und Zucker". Erinnerungen aus Fredeburg
1941-1954
[nach
oben]
Wiederaufbau
Die Menschen hatten begonnen, ihre im Krieg zerstörten Häuser
wieder aufzubauen. Für Einige von ihnen bedeutete das, ihre Häuser
von Grund auf völlig neu bauen zu müssen. Überwiegend
waren die Häuser und Gebäude in Fredeburg aus schwarz-weißem
Fachwerk gebaut, und so erstellten viele ihre neuen Häuser genau
nach diesem traditionellen Vorbild. Die gesamte tragende Konstruktion
bestand dabei aus Holz, einem Baustoff, an dem im Sauerland kein Mangel
herrschte. Anderes Baumaterial war ja kaum zu erhalten.
Kriegsschäden
an Kirchturm und Rathaus (rechts) in Fredeburg 1945
Auf einer Wiese dicht neben unserem Haus fuhr eines Morgens ein von
zwei Pferden gezogener großer Wagen vor, der mit Holzbalken beladen
war. Mehrere Zimmerleute, die an ihrer typischen Tracht aus schwarzen,
weiten Hosen, weißen Hemden und den breitrandigen Hüten zu
erkennen waren, begannen, die Balken abzuladen.
Nachdem sämtliche Holzbalken in mehreren Stapeln auf der Wiese
lagen, begannen die Männer mit der Bearbeitung. Es wurde gesägt,
gebohrt, mit Stemmeisen Zapfen und Lager erstellt und das alles
mit Handwerkszeug ohne Motoren, nur mit Muskelkraft. Die fertig bearbeiteten
Balken erhielten eine Nummer und wurden nach einem bestimmten System
auf der Wiese verteilt. »Die Balken sind für das neue Haus
der Familie Lang in der Hochstraße bestimmt, das soll demnächst
wieder aufgebaut werden«, hieß es.
In jeder
freien Minute stand ich auf der Wiese und sah den Handwerkern bei der
Arbeit zu. Für mich war völlig klar: Ich wollte Zimmermann
werden. Auch als die Arbeiten auf der Wiese beendet waren und die Fuhrleute
die Balken zur Baustelle in der Hochstraße transportierten, sah
ich zu, so oft ich konnte. Es war interessant zu sehen, wie die Balken
vor Ort aufgebaut, zusammengefügt und dann durch Zapfen miteinander
verbunden wurden.
Fast täglich war der Baufortschritt zu erkennen. Das neue Gebäude
wuchs und nahm langsam Gestalt an. Immer mehr Decken, Wände, Türen
und Fenster wurden montiert. In die Balken zur Straßenseite wurden
Schriftzüge gemeißelt, die besagten, dass das Haus vom Krieg
zerstört, nun aber von den Eheleuten Lang wieder aufgebaut worden
war.
Eines Tages war es dann soweit: Das Hausheben (Richtfest) konnte gefeiert
werden. Die letzten Dachbalken waren angebracht worden, und oben im
Giebel hatten die Zimmerleute eine kleine grüne Birke befestigt,
die mit bunten Bändern geschmückt war. Viele Leute waren gekommen,
um an dem Ereignis teilzunehmen. Immerhin entstand hier das erste neue
Haus in Fredeburg nach dem Kriege und setzte ein Zeichen der Hoffnung
auf die Zukunft.
Hoch oben auf den Dachbalken stand ein Zimmermann, der seinen Richtspruch
vortrug, mit vielen Glück- und Segenswünschen für die
Bauherren. Zum Schluss trank er einen Schnaps und warf dann das Glas
in hohem Bogen herunter, sodass es am Boden in hundert Scherben sprang.
Nachdem der Pastor das neue Gebäude gesegnet hatte, trieben die
Zimmerleute allerlei Unsinn. So fuhren sie die Hausfrau in einer Schubkarre
rund um das Haus, und alle Beteiligten und auch die Zuschauer bekamen
immer wieder einen Schnaps. Wo die Familie Lang allerdings den Schnaps,
der nicht einfach gekauft werden konnte, aufgetrieben hatte, blieb unerwähnt.
Es war ein offenes Geheimnis, dass es in Fredeburg einige so genannte
Schwarzbrenner gab. Trotz der bestehenden Verbote brannten sie heimlich
Schnaps aus Kartoffeln oder Getreide, was eigentlich zur Ernährung
der Bevölkerung dringender gebraucht wurde, und tauschten ihn gegen
Waren aller Art ein. Der Tauschhandel war allgemein sehr oft die einzige
Möglichkeit, an dringend benötigte Dinge zu kommen, die es
nirgendwo zu kaufen gab. In der Nachbarstadt Schmallenberg gab es sogar
eine Tauschzentrale, in der sich die Leute trafen, um mit allem Möglichen
Tauschhandel zu treiben.
Nach diesem ersten Wiederaufbau eines Gebäudes in der Hochstraße
begannen auch andere, ihre zerstörten Häuser wieder herzurichten
oder neu zu bauen, und an vielen Stellen in der Stadt zeigte sich eine
rege Bautätigkeit. Wir Kinder waren oft als neugierige Zuschauer
an den Baustellen.
Das Räumen der Trümmer und das Ausheben der Baugruben musste
in den ersten Jahren noch ohne Baumaschinen, nur mit einfachen Werkzeugen
von Hand erledigt werden. Die Steine wurden aus dem Schutt gesucht und
die Mörtelreste mit einem Hammer abgeklopft. Neue Steine waren
ja nicht zu erhalten. Später wurden für die Abbruch- und Räumarbeiten
und das Ausheben der Baugruben schwere Bagger eingesetzt.
Manchmal blieb nichts anderes übrig, als den festen Fels zu sprengen.
Dies geschah durch einen Sprengmeister, der dafür auch in den Schiefergruben
verantwortlich war. Sobald die Sprengladung angebracht war, wurde die
Baustelle weiträumig abgesperrt und gesichert und auf das Hornsignal
des Sprengmeisters hin die Ladung gezündet. Mit einem lauten Knall
hoben sich Steine, Erdreich und die Fichtenzweige, mit denen der Bereich
abgedeckt war, zuerst in die Luft, fielen dann aber wieder in sich zusammen.
Beißender Geruch nach Rauch und Dynamit lag dann in der Luft.
Wenn der Rauch und der Staub sich gelegt hatten, ertönte das Signal
des Sprengmeisters zur Entwarnung, und die Bagger begannen den Bauschutt
auf Lastwagen zu laden.
Oberes Ohl in Fredeburg 1952
Unermüdlich fuhren die schweren Wagen hin und her, und ich staunte
immer wieder über die riesigen Baggerschaufeln, von denen ein paar
genügten, um einen Lastwagen zu füllen. Viele der Trümmergrundstücke
blieben noch jahrelang liegen, doch irgendwann wurden auch sie wieder
neu bebaut, und die Spuren des Krieges verschwanden langsam, aber sicher.
[nach
oben]
Schützenfest
1947
»Nächste Woche ist Schützenfest«, verkündete
unsere Mutter.»Was ist das denn, was passiert denn da?«,
fragten meine Schwester und ich neugierig.
»Ach ja, das kennt ihr ja noch gar nicht«, stellte sie erstaunt
fest. »Im Krieg ist das ja alles ausgefallen, da gab es mehr als
genug Schützenfeste anderswo. Also, am Samstag treten alle drei
Kompanien der Schützenbruderschaft vor dem Rathaus im Ohl an, eine
aus der Altstadt und je eine aus der Ober- und Unterstadt.«
So wie die SA und die Hitlerjugend?«, fragte ich, denn das kannte
ich noch.
»So ähnlich, nur eben anders, ihr werdet ja sehen«,
sagte unsere Mutter vage.
»Der Schützenzug marschiert dann zu dem großen Zelt,
das auf dem Platz vor der SA-, nein, Polizeischule aufgebaut wird, da
ist dann ein Konzert und später Tanz.«
»Wird da auch Musik gemacht, Mama? Sag doch mal.« Ich war
ganz aufgeregt.
»Konzerte und Tanz ohne Musik, Hansi, gibt es sehr selten, eigentlich
nie!« Meine Mutter lachte. »Dann, am Sonntag, treten wieder
alle Schützen an und marschieren zum Schützenhochamt in die
Kirche. Danach geht es wieder zur Polizeischule und dort beginnt das
Vogelschießen, und dann ... Ach was, das ist alles viel zu kompliziert.
Wisst ihr was? Wir warten es einfach ab.« Unsere Mutter sah ein,
dass sie uns ein Schützenfest einfach nicht erklären konnte.
Am Samstagnachmittag war es dann soweit. Wir waren alle drei zum Kirchplatz
gegangen und hatten uns zu den anderen Zuschauern gestellt, wir Kinder
ganz vorn, direkt an der Bordsteinkante, damit wir alles sehen konnten.
Aus allen Richtungen strömten die Leute herbei, auch einige Musiker,
die mit ihren Instrumenten dem Rathaus zustrebten.
Schützenzug
in Fredeburg 1947
Nach einer
Weile war zackige Marschmusik zu hören, und ich dachte: Also doch
wie früher bei der SA und der Hitlerjugend. Dann näherte sich
der Zug, die »Knüppelmusik« mit ihren Trommeln und
Pfeifen voran, dahinter die Blaskapelle und danach in Reih und Glied
die drei Schützenkompanien. Als der gesamte Zug an uns vorüberzog,
riss ich mich von der Hand meiner Mutter los und lief den ganzen Weg
bis zum Schützenzelt neben der Musikkapelle her.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Klang einer kleinen Trommel geweckt,
die von ferne, mal lauter, mal leiser, zu hören war: trram, trram,
trramtamtam. Ich fragte meine Mutter, was das denn zu bedeuten habe.
»Damit werden die Schützenbrüder in der gesamten Stadt
geweckt, denn das Schützenfest beginnt heute erst so richtig«,
antwortete sie. Dabei trommelte sie mit den Fingerknöcheln den
Takt der Trommel an der Tischkante mit: trram, trram, trramtamtam.
Punkt zehn Uhr begann in der Kirche das feierliche Schützenhochamt,
das nicht wie sonst nur von der Orgel, sondern von der gesamten Musikkapelle
begleitet wurde. Mittags trat wiederum der gesamte Schützenzug
vor dem Rathaus an und marschierte wie am Tag zuvor zum Schützenplatz,
wo das Vogelschießen begann, selbstverständlich nicht ohne
meine Begleitung.
Bei den traditionellen Schützenfesten in Fredeburg wurde normalerweise
mit richtigen Gewehren so lange auf den aus Holz angefertigten Vogel
geschossen, bis der sich hoch oben an der Vogelstange nicht mehr halten
konnte und herunterfiel. Der Schütze, der als Letzter geschossen
hatte, wurde dann zum Schützenkönig erklärt.
Jetzt, zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, war der Besitz und Gebrauch
einer Schusswaffe immer noch strikt verboten. Not macht erfinderisch,
und irgendein Pfiffikus war auf die Idee gekommen, statt der Gewehre
Armbrüste einzusetzen, und den Vogel nach Art des Wilhelm Tell
mit Bolzen abzuschießen. Nach langen Bemühungen fiel der
Vogel dann endlich herunter.
Unter lautem Gejohle wurde der Schützenkönig von einigen Schützen
hochgehoben. Das war in diesem Falle besonders sinnvoll, weil man den
recht kleinen Kerl sonst auch nicht gesehen hätte. Der schnell
gefundene Spitznahme »Zaunkönig«, nach dem winzigen
Vogel, blieb dem Mann noch Jahre danach erhalten.
Natürlich stand ich wieder unmittelbar neben der Musikkapelle,
die in einiger Entfernung vom Geschehen auf Stühlen Platz genommen
hatte und in regelmäßigen Abständen Märsche schmetterte.
Als absoluten Höhepunkt spielten sie Die Post im Walde, wobei einer
der Trompeter, der sich in einiger Entfernung aufgestellt hatte, das
»Echo« spielte. Die Musik interessierte mich weit mehr als
das übrige Treiben ringsherum.
Am Nachmittag fand der große Festzug statt. Wieder lief ich neben
der Blaskapelle her, doch dieses Mal führte die Strecke durch die
ganze Stadt bis zu dem Haus, in dem der König wohnte. Gemeinsam
mit dem gesamten, festlich gekleideten »Hofstaat« wurde
dort das Königspaar abgeholt.
Abends war ich vom vielen Marschieren so müde, dass ich sofort
einschlief, kaum dass ich im Bett lag. Am nächsten Morgen wurde
ich wieder von der kleinen Trommel geweckt: trram, trram, trramtamtam.
(...)
[nach
oben]
Der
Badekump
Oberhalb von Fredeburg, da wo der Bach Schmiedinghausen den Bereich
der Weidenbüsche verließ, lag das etwa 1930 erbaute Schwimmbad,
das in Fredeburg nur Badekump, also Badetümpel genannt
wurde.
Ewa 1943 war mit dem Um- und Ausbau des Bades begonnen worden. Unter
sachkundiger Leitung eines erfahrenen Maurers hatten Kriegsgefangene
es geschafft, die Mauer mit den vier Startblöcken fertig zu stellen,
bevor die sich nähernde Front im April 1945 den Arbeiten ein Ende
setzte. (...)
Das
Fredeburger Schwimmbad von 1934. Der im Krieg begonnene Ausbau wurde
nie vollendet. Kinder und Jugendliche benutzten das Provisorium, was
nicht ungefährlich war.
Die Überreste der abgebrochenen Bauarbeiten wie Zement, Sand, Bretter,
Balken und dergleichen lagen immer noch herum. Sogar zwei Loren mit
Schienen standen noch im hinteren Teil der Baugrube. Die Baustelle war
offensichtlich von heute auf morgen verlassen worden. Es war ausgeschlossen,
dass von offizieller Seite hier noch mal irgendwas passierte; die Leute
hatten andere Sorgen.
Also begannen ein paar Jugendliche und wir Kinder damit, die Loren samt
Schienen sowie Gerümpel und Schutt aus dem halb fertigen Becken
zu entfernen. Der Ablauf neben der Mauer wurde mit Grassoden verstopft,
um das Wasser anzustauen. Mit jedem Tag wuchs dieser Damm aus Erde,
Gras und Steinen, sodass der Wasserspiegel langsam immer weiter anstieg.
Im heißen Sommer 1947 war ich fast täglich dort. Mit einer
Badehose, einem Handtuch, einer Decke und natürlich mit ein paar
»Bütters« beladen, traf ich mich mit meinen Freunden.
Wir lagerten immer auf der Wiese, die der Mauer gegenüber am hinteren
Ende des Beckens lag.
Eine Zeit lang arbeiteten wir an der Erhöhung und Befestigung des
Dammes mit, bis es uns zu heiß wurde und wir lieber im Wasser
herumplanschten. Nach anfänglichen schmerzhaften Sonnenbränden
gewöhnte sich die Haut an die Sonne, und wir wurden »braun
wie die Neger«.
Je mehr Kinder und Jugendliche im Wasser umhertollten, desto trüber
wurde die Brühe. Das Untertauchen wurde dadurch erst richtig interessant,
weil die Taucher unter Wasser unsichtbar waren. Ich ging nur dann aus
dem Wasser, wenn ich zu frieren begann. Auf meiner Decke ließ
ich mich von der Sonne wärmen und mampfte die Bütters, bevor
sie sich in der Hitze auflösten.
Der Damm wuchs mit jedem Tag, bis das Wasser so hoch angestaut war,
dass man nicht mehr überall stehen konnte. Die tiefste Stelle lag
unmittelbar an der Mauer, und zwar vor den beiden linken Startblöcken,
der Boden stieg ab hier langsam an. In die Überlaufrinne der Mauer
war eine dicke, breite Bohle eingeklemmt, die etwa zwei Meter weit über
das Wasser hinausragte und sich hervorragend als Sprungbrett eignete.
(...)
[nach
oben]
Lehrer
Trumm
Ostern 1949 kam ich in die fünfte Klasse und damit in die Mittelstufe.
Zusammen mit den Jungen der sechsten Klasse wurden wir nun in einem
Klassenraum von Lehrer Trumm unterrichtet. Vorbei war es mit dem eher
beschaulichen Unterricht von Fräulein Hermann. Lehrer Trumm war
ein energischer Mann, der die neu gebildete Klasse voll im Griff hatte.
Katholische
Volksschule Fredeburg, Aufnahme von 1931
Wer es wagte, während des Unterrichts zu träumen oder irgendwelche
Faxen zu veranstalten, musste damit rechnen, ein Schlüsselbund
oder ein Stück Kreide an den Kopf geworfen zu bekommen. Ohrfeigen
oder Stockhiebe waren an der Tagesordnung. Einmal zog Lehrer Trumm mir
mit einer Messlatte aus Holz eins über, dass sich auf meinem Rücken
ein dicker, roter Striemen bildete, der noch tagelang zu sehen war.
Trotzdem oder gerade deswegen war er ein Lehrer, der seine Sache verstand
und bei dem ich viel gelernt habe. Der Unterricht bei Lehrer Trumm war,
wenn auch zu Beginn gezwungenermaßen, wesentlich interessanter
und spannender, als das bei Fräulein Hermann der Fall gewesen war.
Besonders die Fächer Geschichte und Religion machten mir viel mehr
Freude, weil die Ereignisse und Geschichten von Lehrer Trumm so anschaulich
dargestellt wurden, als ob man ein interessantes Buch lesen würde.
Der Sportunterricht hieß zwar immer noch Turnen, bestand aber
nun nicht mehr ausschließlich aus ein paar Gymnastikübungen
und Völkerball. Geräteturnen, Leichtathletik wie Laufen, Springen,
Schlagballwerfen und sogar Fußball standen auf dem Programm. Fußballspielen
war ohnehin meine Leidenschaft, und ich war davon begeistert, das nun
auch im Sportunterricht, sozusagen offiziell, tun zu dürfen.
Lehrer Trumm hat großen Anteil daran, dass aus mir ein ganz passabler
Fußballer wurde, denn er gab mir viele Hinweise und Tipps und
brachte mir alle möglichen Tricks bei. »Wenn du ein guter
Fußballer werden willst, musst du üben, immer wieder üben«,
schärfte er uns Jungen ein. »Ein richtiger Fußballer
kann mit beiden Füßen gleich gut schießen, und das
ist nur durch Training zu erreichen.« Er musste das wissen, denn
er spielte in der ersten Mannschaft des TV Fredeburg mit, dessen Heimspiele
ich mir immer ansah. (...)
1952 beim Wechsel in die achte Klasse
[nach
oben]
Inhalt »Mit
Zimt und Zucker«
Vorbemerkungen
7
Zurück nach Fredeburg 9
Die Verwandten 11
Fahrten nach Lenne 16
Schatten des Krieges 19
Das Weißbrot 23
Radetzkymarsch, die tote Oma
und die Fallsucht 26
Krieg in Fredeburg 30
Die Besatzungsmacht 36
Neue Werte, neue Spiele 41
Der Ernst des Lebens 47
Schnee 49
Weihnachten und Silvester 1945 53
Karneval und Ostern 1946 59
Im Rhythmus der Jahreszeiten 64
Der Milchkrug 71
Erntezeit und Schulspeise 76
Früchte aus Wald und Feld 80
Wiederaufbau 82
Der Winter naht 86
Eine neue Wohnung 89
Holztransport und Skivergnügen 94
Eine Reise nach Köln 97
Der Fußballhimmel 113
Schützenfest 1947 117
Der Badekump 121
Mäuse, Fische und ein übler Streich 126
Brennholz und Misstrauen 133
Meine erste heilige Kommunion 1948 139
Die Währungsreform 1948 145
Die Fahrradtour 150
Messdiener 153
Der Große Würger 161
Schlittschuhe 163
Wildfütterung und Wintersport 168
Lehrer Trumm 172
Landleben 175
Ein neues Radio und alte Indianer 182
Schulgeschichten 185
Das Zeltlager an der Ostsee 189
Große Ereignisse 195
Der Schritt ins Leben 199
Die
Geschichte Fredeburgs 201
Seitenkopf
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