Leseprobe

Mit Zimt und Zucker
Heinz Hellmich
Erinnerungen aus Fredeburg 1941-1954

Broschiert, 208 Seiten, mit Fotos.
Sammlung der Zeitzeugen (48)
ISBN 3-933336-97-X
12,80 EUR


Weihnachten und Silvester 1945
Ostern 1946
Wiederaufbau
Schützenfest 1947
Der Badekump
Lehrer Trumm
zum kompletten Inhaltsverzeichnis


Weihnachten und Silvester 1945

(...) Der Nikolaustag rückte immer näher, und ich war in diesen Tagen ungewöhnlich still, sodass meine Mutter sich schon wunderte. Die ganze Zeit überlegte ich, wie das bevorstehende fürchterliche Ereignis abzuwenden sei, und kam zwei Tage vor dem Nikolaustag auf die Lösung: Ich wurde einfach krank! Ab sofort begann ich zu husten und mich über Kopfschmerzen zu beklagen.

Als der fragliche Abend dann gekommen war und der Nikolaus mit seinem Gehilfen die Treppe heraufpolterte, rief ich, schon bevor die Türe sich öffnete, mit hoher, ängstlicher Stimme: »Ich bin krank, ich bin krank!« und verkroch mich auf dem Sofa unter einer Decke. Als der Nikolaus meine Angst sah, beließ er es für dieses Mal bei einigen Ermahnungen.

Der schreckliche Knecht Ruprecht rasselte nur ein wenig mit den Ketten und dem Sack, aus dem das Bein eines sicher sehr bösen Jungen herausragte. Die Tüten mit Süßigkeiten, Nüssen und Äpfeln musste Thea für uns beide vom Nikolaus entgegennehmen. Vor lauter Angst war ich nicht dazu in der Lage, erholte mich aber erstaunlich schnell und machte mich über die Tüte her, kaum dass der Nikolaus mitsamt seinem Helfer verschwunden war.

In der Adventszeit wurde jeden Sonntag nach Einsetzen der Dämmerung eine Kerze mehr am Adventskranz angezündet, bis am letzten Sonntag vor Weihnachten alle vier Kerzen brannten. Für jeden von uns lag im Backofen dann ein Bratapfel, der mit Zimt und Zucker bestreut wurde. Der Zimtduft vermischte sich mit dem Geruch der Kerzen und der Tannenzweige des Adventskranzes. Solange die Kerzen brannten, wurden Advents- und Winterlieder gesungen, und das war so schön, dass mir wieder mal die Tränen in die Augen stiegen.

Fredeburg im Winter, Aufnahme von 1961


Jede Familie in der Stadt konnte sich einen Tag vor Weihnachten am Forsthaus kostenlos einen Weihnachtsbaum abholen. Das war immer eine aufregende Sucherei, bis alle den passenden Baum gefunden hatten und ihn auf einem Schlitten mit nach Hause nahmen. Am Heiligabend wurden meine Schwester und ich dann am späten Nachmittag ins Bett gesteckt, um schon mal vorzuschlafen, aber dazu waren wir viel zu aufgeregt. Wir warteten auf das Ertönen des Glöckchens, weil dann das Christkind da gewesen war und nun endlich die Bescherung begann.

In der Küche stand der wunderschön geschmückte Weihnachtsbaum mit silbernen Kugeln, silbern glitzerndem Lametta und vielen brennenden Kerzen, und es duftete, wie es nur Weihnachten duften kann. Unsere Mutter las aus der Bibel die Geschichte von der Geburt des Christkindes vor, und dann wurde Stille Nacht, heilige Nacht gesungen. Aber ich konnte mich spätestens bei der zweiten Strophe schon nicht mehr auf den Text konzentrieren, weil ich in Richtung des Baumes schielte, unter dem geheimnisvolle Päckchen lagen. ´(...)

Spät in der Nacht, nachdem wir unseren Weihnachtsteller gründlich geplündert hatten, marschierten wir gemeinsam zur Kirche, wo schon alle Glocken läuteten und die Christmette um Mitternacht begann. Meine Schwester und ich gingen nach vorn zu den Kinderbänken, wo schon viele Kinder versammelt waren und sich leise über ihre Weihnachtsgeschenke unterhielten. (...)


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Ostern 1946

(...) Am Aschermittwoch gingen wir alle zur Kirche, um uns das Aschenkreuz auf die Stirn machen zu lassen, und damit begann die sechswöchige Fastenzeit. »In dieser Zeit darf man keine Süßigkeiten essen, und an jedem Freitag wird gefastet«, wurden wir von unserer Mutter belehrt. »Aber es ist ja sowieso kaum etwas zum Essen aufzutreiben, darum wird sich auch nicht viel ändern.«

Ab Gründonnerstag läuteten die Kirchenglocken nicht mehr. »Die sind nach Rom geflogen«, hieß es, »die kommen erst in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag zurück.« Was mit den Glocken in Rom angestellt wurde, war mir nicht so ganz klar. Tatsache aber war, dass sie nicht mehr zu hören waren. Stattdessen zogen die Messdiener in Reih und Glied, jedoch ohne die sonst üblichen Gewänder in normaler Kleidung durch die Stadt und veranstalteten mit ihren so genannten Tarren (Klappern aus Holz) ein lautes, sonderbares Geräusch im Rhythmus ihrer Schritte. Rrr rrr rrr rrr rrr ... hörte man am Morgen, am Mittag und am Abend anstelle des sonst üblichen Läutens.

Rrr rrr rrr rrr... scholl es ab Gründonnerstag dreimal am Tag in Fredeburg. Dann zogen die Meßdiener mit ihren Tarren weiter.

In der Osternacht erklangen aber alle Glocken wieder wie gewohnt zur Auferstehungsmesse, die feierlich in der Kirche gelesen wurde. Am Schluss wurden Feuer und Wasser geweiht, und jeder entzündete an dem Feuer ein Windlicht und nahm es mit nach Hause, um damit das Herdfeuer anzuzünden. Die Gläubigen nahmen auch von dem gesegneten Wasser einige Flaschen mit, damit sie das ganze Jahr genügend Weihwasser im Hause hatten.

Am Karsamstag hatten meine Schwester und ich im Wald ein wenig Moos gesammelt und für jeden im Garten ein Nest gebaut. Nun, am Morgen des Ostersonntages, stürmten wir,kaum dass wir richtig angezogen waren, die Treppe hinunter in den Garten, um nachzusehen, ob der Osterhase unsere Nester auch gefunden hatte. Und tatsächlich, darin lagen bunt gefärbte Eier und einige Süßigkeiten, die wir in die Taschen unserer Schürzen steckten. Unserer Mutter zeigten wir aufgeregt, was uns der Osterhase gebracht hatte.


Auf den Feldern außerhalb von Fredeburg wurden am ersten Ostertag drei große Feuer angezündet. Verantwortlich dafür waren die jeweiligen Stadtteile Altstadt, Unter- und Oberstadt. Wir Kinder hatten schon während der Fastenzeit viele Baumäste und Reste, die beim Holzfällen übrig geblieben waren, aus dem Wald in Form von so genannten Bunden zu den vorgesehenen Feuerstellen geschleppt. Für jeden war es Ehrensache, so viele Bunde wie möglich abzuliefern.

Aufbau des Fredeburger Osterfeuers in den 1930er Jahren


Am Gründonnerstag wurde die Menge der Bunde dann festgestellt, und es gab für je fünf eine Zuckerbrezel. Die Brezeln wurden auf einem Stock aufgereiht und stolz mit nach Hause genommen. Karsamstag begannen dann viele Helfer damit, die Osterfeuer aufzubauen. Zunächst wurden vier etwa 10 Meter hohe Fichtenstämme in einem Quadrat von ungefähr 3 mal 3 Metern aufgestellt, untereinander mit Streben aus Holz fest verbunden und mit dem Brennmaterial gefüllt, das wir Kinder gesammelt hatten. Diese großen Türme wurden immer erst am Nachmittag des Ostersonntages fertig gestellt.

Die jungen Burschen hatten in der Karwoche ihre großen Fackeln hergestellt. Sie bestanden aus ölgetränkten Lumpen, die um das Ende von langen Stöcken gewickelt waren, und lagen nun zum Einsatz bereit. Sobald von der Kirche Glockengeläut zu vernehmen war, wurden die Feuer alle gleichzeitig angezündet. Es kam dabei darauf an, die Holztürme so schnell wie möglich von oben nach unten an allen vier Seiten zu entzünden, um ein schönes, gleichmäßiges Abbrennen zu erreichen. Vom Burgberg, der mitten in Fredeburg lag, waren alle drei Osterfeuer zu bewundern. Tagelang wurde noch erbittert darum gestritten, welcher Stadtteil das schönste Feuer abgebrannt hatte.
(...)

Aus Heinz Hellmich "Mit Zimt und Zucker". Erinnerungen aus Fredeburg 1941-1954

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Wiederaufbau

Die Menschen hatten begonnen, ihre im Krieg zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Für Einige von ihnen bedeutete das, ihre Häuser von Grund auf völlig neu bauen zu müssen. Überwiegend waren die Häuser und Gebäude in Fredeburg aus schwarz-weißem Fachwerk gebaut, und so erstellten viele ihre neuen Häuser genau nach diesem traditionellen Vorbild. Die gesamte tragende Konstruktion bestand dabei aus Holz, einem Baustoff, an dem im Sauerland kein Mangel herrschte. Anderes Baumaterial war ja kaum zu erhalten.

Kriegsschäden an Kirchturm und Rathaus (rechts) in Fredeburg 1945


Auf einer Wiese dicht neben unserem Haus fuhr eines Morgens ein von zwei Pferden gezogener großer Wagen vor, der mit Holzbalken beladen war. Mehrere Zimmerleute, die an ihrer typischen Tracht aus schwarzen, weiten Hosen, weißen Hemden und den breitrandigen Hüten zu erkennen waren, begannen, die Balken abzuladen.

Nachdem sämtliche Holzbalken in mehreren Stapeln auf der Wiese lagen, begannen die Männer mit der Bearbeitung. Es wurde gesägt, gebohrt, mit Stemmeisen Zapfen und Lager erstellt – und das alles mit Handwerkszeug ohne Motoren, nur mit Muskelkraft. Die fertig bearbeiteten Balken erhielten eine Nummer und wurden nach einem bestimmten System auf der Wiese verteilt. »Die Balken sind für das neue Haus der Familie Lang in der Hochstraße bestimmt, das soll demnächst wieder aufgebaut werden«, hieß es.

In jeder freien Minute stand ich auf der Wiese und sah den Handwerkern bei der Arbeit zu. Für mich war völlig klar: Ich wollte Zimmermann werden. Auch als die Arbeiten auf der Wiese beendet waren und die Fuhrleute die Balken zur Baustelle in der Hochstraße transportierten, sah ich zu, so oft ich konnte. Es war interessant zu sehen, wie die Balken vor Ort aufgebaut, zusammengefügt und dann durch Zapfen miteinander verbunden wurden.

Fast täglich war der Baufortschritt zu erkennen. Das neue Gebäude wuchs und nahm langsam Gestalt an. Immer mehr Decken, Wände, Türen und Fenster wurden montiert. In die Balken zur Straßenseite wurden Schriftzüge gemeißelt, die besagten, dass das Haus vom Krieg zerstört, nun aber von den Eheleuten Lang wieder aufgebaut worden war.

Eines Tages war es dann soweit: Das Hausheben (Richtfest) konnte gefeiert werden. Die letzten Dachbalken waren angebracht worden, und oben im Giebel hatten die Zimmerleute eine kleine grüne Birke befestigt, die mit bunten Bändern geschmückt war. Viele Leute waren gekommen, um an dem Ereignis teilzunehmen. Immerhin entstand hier das erste neue Haus in Fredeburg nach dem Kriege und setzte ein Zeichen der Hoffnung auf die Zukunft.

Hoch oben auf den Dachbalken stand ein Zimmermann, der seinen Richtspruch vortrug, mit vielen Glück- und Segenswünschen für die Bauherren. Zum Schluss trank er einen Schnaps und warf dann das Glas in hohem Bogen herunter, sodass es am Boden in hundert Scherben sprang.

Nachdem der Pastor das neue Gebäude gesegnet hatte, trieben die Zimmerleute allerlei Unsinn. So fuhren sie die Hausfrau in einer Schubkarre rund um das Haus, und alle Beteiligten und auch die Zuschauer bekamen immer wieder einen Schnaps. Wo die Familie Lang allerdings den Schnaps, der nicht einfach gekauft werden konnte, aufgetrieben hatte, blieb unerwähnt.
Es war ein offenes Geheimnis, dass es in Fredeburg einige so genannte Schwarzbrenner gab. Trotz der bestehenden Verbote brannten sie heimlich Schnaps aus Kartoffeln oder Getreide, was eigentlich zur Ernährung der Bevölkerung dringender gebraucht wurde, und tauschten ihn gegen Waren aller Art ein. Der Tauschhandel war allgemein sehr oft die einzige Möglichkeit, an dringend benötigte Dinge zu kommen, die es nirgendwo zu kaufen gab. In der Nachbarstadt Schmallenberg gab es sogar eine Tauschzentrale, in der sich die Leute trafen, um mit allem Möglichen Tauschhandel zu treiben.

Nach diesem ersten Wiederaufbau eines Gebäudes in der Hochstraße begannen auch andere, ihre zerstörten Häuser wieder herzurichten oder neu zu bauen, und an vielen Stellen in der Stadt zeigte sich eine rege Bautätigkeit. Wir Kinder waren oft als neugierige Zuschauer an den Baustellen.

Das Räumen der Trümmer und das Ausheben der Baugruben musste in den ersten Jahren noch ohne Baumaschinen, nur mit einfachen Werkzeugen von Hand erledigt werden. Die Steine wurden aus dem Schutt gesucht und die Mörtelreste mit einem Hammer abgeklopft. Neue Steine waren ja nicht zu erhalten. Später wurden für die Abbruch- und Räumarbeiten und das Ausheben der Baugruben schwere Bagger eingesetzt.

Manchmal blieb nichts anderes übrig, als den festen Fels zu sprengen. Dies geschah durch einen Sprengmeister, der dafür auch in den Schiefergruben verantwortlich war. Sobald die Sprengladung angebracht war, wurde die Baustelle weiträumig abgesperrt und gesichert und auf das Hornsignal des Sprengmeisters hin die Ladung gezündet. Mit einem lauten Knall hoben sich Steine, Erdreich und die Fichtenzweige, mit denen der Bereich abgedeckt war, zuerst in die Luft, fielen dann aber wieder in sich zusammen. Beißender Geruch nach Rauch und Dynamit lag dann in der Luft. Wenn der Rauch und der Staub sich gelegt hatten, ertönte das Signal des Sprengmeisters zur Entwarnung, und die Bagger begannen den Bauschutt auf Lastwagen zu laden.



Oberes Ohl in Fredeburg 1952


Unermüdlich fuhren die schweren Wagen hin und her, und ich staunte immer wieder über die riesigen Baggerschaufeln, von denen ein paar genügten, um einen Lastwagen zu füllen. Viele der Trümmergrundstücke blieben noch jahrelang liegen, doch irgendwann wurden auch sie wieder neu bebaut, und die Spuren des Krieges verschwanden langsam, aber sicher.


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Schützenfest 1947

»Nächste Woche ist Schützenfest«, verkündete unsere Mutter.»Was ist das denn, was passiert denn da?«, fragten meine Schwester und ich neugierig.
»Ach ja, das kennt ihr ja noch gar nicht«, stellte sie erstaunt fest. »Im Krieg ist das ja alles ausgefallen, da gab es mehr als genug Schützenfeste anderswo. Also, am Samstag treten alle drei Kompanien der Schützenbruderschaft vor dem Rathaus im Ohl an, eine aus der Altstadt und je eine aus der Ober- und Unterstadt.«
So wie die SA und die Hitlerjugend?«, fragte ich, denn das kannte ich noch.
»So ähnlich, nur eben anders, ihr werdet ja sehen«, sagte unsere Mutter vage.
»Der Schützenzug marschiert dann zu dem großen Zelt, das auf dem Platz vor der SA-, nein, Polizeischule aufgebaut wird, da ist dann ein Konzert und später Tanz.«
»Wird da auch Musik gemacht, Mama? Sag doch mal.« Ich war ganz aufgeregt.
»Konzerte und Tanz ohne Musik, Hansi, gibt es sehr selten, eigentlich nie!« Meine Mutter lachte. »Dann, am Sonntag, treten wieder alle Schützen an und marschieren zum Schützenhochamt in die Kirche. Danach geht es wieder zur Polizeischule und dort beginnt das Vogelschießen, und dann ... Ach was, das ist alles viel zu kompliziert. Wisst ihr was? Wir warten es einfach ab.« Unsere Mutter sah ein, dass sie uns ein Schützenfest einfach nicht erklären konnte.

Am Samstagnachmittag war es dann soweit. Wir waren alle drei zum Kirchplatz gegangen und hatten uns zu den anderen Zuschauern gestellt, wir Kinder ganz vorn, direkt an der Bordsteinkante, damit wir alles sehen konnten. Aus allen Richtungen strömten die Leute herbei, auch einige Musiker, die mit ihren Instrumenten dem Rathaus zustrebten.

Schützenzug in Fredeburg 1947

Nach einer Weile war zackige Marschmusik zu hören, und ich dachte: Also doch wie früher bei der SA und der Hitlerjugend. Dann näherte sich der Zug, die »Knüppelmusik« mit ihren Trommeln und Pfeifen voran, dahinter die Blaskapelle und danach in Reih und Glied die drei Schützenkompanien. Als der gesamte Zug an uns vorüberzog, riss ich mich von der Hand meiner Mutter los und lief den ganzen Weg bis zum Schützenzelt neben der Musikkapelle her.

Am nächsten Morgen wurde ich vom Klang einer kleinen Trommel geweckt, die von ferne, mal lauter, mal leiser, zu hören war: trram, trram, trramtamtam. Ich fragte meine Mutter, was das denn zu bedeuten habe.

»Damit werden die Schützenbrüder in der gesamten Stadt geweckt, denn das Schützenfest beginnt heute erst so richtig«, antwortete sie. Dabei trommelte sie mit den Fingerknöcheln den Takt der Trommel an der Tischkante mit: trram, trram, trramtamtam.

Punkt zehn Uhr begann in der Kirche das feierliche Schützenhochamt, das nicht wie sonst nur von der Orgel, sondern von der gesamten Musikkapelle begleitet wurde. Mittags trat wiederum der gesamte Schützenzug vor dem Rathaus an und marschierte wie am Tag zuvor zum Schützenplatz, wo das Vogelschießen begann, selbstverständlich nicht ohne meine Begleitung.

Bei den traditionellen Schützenfesten in Fredeburg wurde normalerweise mit richtigen Gewehren so lange auf den aus Holz angefertigten Vogel geschossen, bis der sich hoch oben an der Vogelstange nicht mehr halten konnte und herunterfiel. Der Schütze, der als Letzter geschossen hatte, wurde dann zum Schützenkönig erklärt.

Jetzt, zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, war der Besitz und Gebrauch einer Schusswaffe immer noch strikt verboten. Not macht erfinderisch, und irgendein Pfiffikus war auf die Idee gekommen, statt der Gewehre Armbrüste einzusetzen, und den Vogel nach Art des Wilhelm Tell mit Bolzen abzuschießen. Nach langen Bemühungen fiel der Vogel dann endlich herunter.
Unter lautem Gejohle wurde der Schützenkönig von einigen Schützen hochgehoben. Das war in diesem Falle besonders sinnvoll, weil man den recht kleinen Kerl sonst auch nicht gesehen hätte. Der schnell gefundene Spitznahme »Zaunkönig«, nach dem winzigen Vogel, blieb dem Mann noch Jahre danach erhalten.

Natürlich stand ich wieder unmittelbar neben der Musikkapelle, die in einiger Entfernung vom Geschehen auf Stühlen Platz genommen hatte und in regelmäßigen Abständen Märsche schmetterte. Als absoluten Höhepunkt spielten sie Die Post im Walde, wobei einer der Trompeter, der sich in einiger Entfernung aufgestellt hatte, das »Echo« spielte. Die Musik interessierte mich weit mehr als das übrige Treiben ringsherum.

Am Nachmittag fand der große Festzug statt. Wieder lief ich neben der Blaskapelle her, doch dieses Mal führte die Strecke durch die ganze Stadt bis zu dem Haus, in dem der König wohnte. Gemeinsam mit dem gesamten, festlich gekleideten »Hofstaat« wurde dort das Königspaar abgeholt.

Abends war ich vom vielen Marschieren so müde, dass ich sofort einschlief, kaum dass ich im Bett lag. Am nächsten Morgen wurde ich wieder von der kleinen Trommel geweckt: trram, trram, trramtamtam. (...)

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Der Badekump

Oberhalb von Fredeburg, da wo der Bach Schmiedinghausen den Bereich der Weidenbüsche verließ, lag das etwa 1930 erbaute Schwimmbad, das in Fredeburg nur „Badekump“, also Badetümpel genannt wurde.

Ewa 1943 war mit dem Um- und Ausbau des Bades begonnen worden. Unter sachkundiger Leitung eines erfahrenen Maurers hatten Kriegsgefangene es geschafft, die Mauer mit den vier Startblöcken fertig zu stellen, bevor die sich nähernde Front im April 1945 den Arbeiten ein Ende setzte. (...)

Das Fredeburger Schwimmbad von 1934. Der im Krieg begonnene Ausbau wurde nie vollendet. Kinder und Jugendliche benutzten das Provisorium, was nicht ungefährlich war.


Die Überreste der abgebrochenen Bauarbeiten wie Zement, Sand, Bretter, Balken und dergleichen lagen immer noch herum. Sogar zwei Loren mit Schienen standen noch im hinteren Teil der Baugrube. Die Baustelle war offensichtlich von heute auf morgen verlassen worden. Es war ausgeschlossen, dass von offizieller Seite hier noch mal irgendwas passierte; die Leute hatten andere Sorgen.

Also begannen ein paar Jugendliche und wir Kinder damit, die Loren samt Schienen sowie Gerümpel und Schutt aus dem halb fertigen Becken zu entfernen. Der Ablauf neben der Mauer wurde mit Grassoden verstopft, um das Wasser anzustauen. Mit jedem Tag wuchs dieser Damm aus Erde, Gras und Steinen, sodass der Wasserspiegel langsam immer weiter anstieg.
Im heißen Sommer 1947 war ich fast täglich dort. Mit einer Badehose, einem Handtuch, einer Decke und natürlich mit ein paar »Bütters« beladen, traf ich mich mit meinen Freunden. Wir lagerten immer auf der Wiese, die der Mauer gegenüber am hinteren Ende des Beckens lag.

Eine Zeit lang arbeiteten wir an der Erhöhung und Befestigung des Dammes mit, bis es uns zu heiß wurde und wir lieber im Wasser herumplanschten. Nach anfänglichen schmerzhaften Sonnenbränden gewöhnte sich die Haut an die Sonne, und wir wurden »braun wie die Neger«.

Je mehr Kinder und Jugendliche im Wasser umhertollten, desto trüber wurde die Brühe. Das Untertauchen wurde dadurch erst richtig interessant, weil die Taucher unter Wasser unsichtbar waren. Ich ging nur dann aus dem Wasser, wenn ich zu frieren begann. Auf meiner Decke ließ ich mich von der Sonne wärmen und mampfte die Bütters, bevor sie sich in der Hitze auflösten.
Der Damm wuchs mit jedem Tag, bis das Wasser so hoch angestaut war, dass man nicht mehr überall stehen konnte. Die tiefste Stelle lag unmittelbar an der Mauer, und zwar vor den beiden linken Startblöcken, der Boden stieg ab hier langsam an. In die Überlaufrinne der Mauer war eine dicke, breite Bohle eingeklemmt, die etwa zwei Meter weit über das Wasser hinausragte und sich hervorragend als Sprungbrett eignete.
(...)

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Lehrer Trumm

Ostern 1949 kam ich in die fünfte Klasse und damit in die Mittelstufe. Zusammen mit den Jungen der sechsten Klasse wurden wir nun in einem Klassenraum von Lehrer Trumm unterrichtet. Vorbei war es mit dem eher beschaulichen Unterricht von Fräulein Hermann. Lehrer Trumm war ein energischer Mann, der die neu gebildete Klasse voll im Griff hatte.

Katholische Volksschule Fredeburg, Aufnahme von 1931


Wer es wagte, während des Unterrichts zu träumen oder irgendwelche Faxen zu veranstalten, musste damit rechnen, ein Schlüsselbund oder ein Stück Kreide an den Kopf geworfen zu bekommen. Ohrfeigen oder Stockhiebe waren an der Tagesordnung. Einmal zog Lehrer Trumm mir mit einer Messlatte aus Holz eins über, dass sich auf meinem Rücken ein dicker, roter Striemen bildete, der noch tagelang zu sehen war.
Trotzdem oder gerade deswegen war er ein Lehrer, der seine Sache verstand und bei dem ich viel gelernt habe. Der Unterricht bei Lehrer Trumm war, wenn auch zu Beginn gezwungenermaßen, wesentlich interessanter und spannender, als das bei Fräulein Hermann der Fall gewesen war. Besonders die Fächer Geschichte und Religion machten mir viel mehr Freude, weil die Ereignisse und Geschichten von Lehrer Trumm so anschaulich dargestellt wurden, als ob man ein interessantes Buch lesen würde.

Der Sportunterricht hieß zwar immer noch Turnen, bestand aber nun nicht mehr ausschließlich aus ein paar Gymnastikübungen und Völkerball. Geräteturnen, Leichtathletik wie Laufen, Springen, Schlagballwerfen und sogar Fußball standen auf dem Programm. Fußballspielen war ohnehin meine Leidenschaft, und ich war davon begeistert, das nun auch im Sportunterricht, sozusagen offiziell, tun zu dürfen.

Lehrer Trumm hat großen Anteil daran, dass aus mir ein ganz passabler Fußballer wurde, denn er gab mir viele Hinweise und Tipps und brachte mir alle möglichen Tricks bei. »Wenn du ein guter Fußballer werden willst, musst du üben, immer wieder üben«, schärfte er uns Jungen ein. »Ein richtiger Fußballer kann mit beiden Füßen gleich gut schießen, und das ist nur durch Training zu erreichen.« Er musste das wissen, denn er spielte in der ersten Mannschaft des TV Fredeburg mit, dessen Heimspiele ich mir immer ansah. (...)



1952 beim Wechsel in die achte Klasse


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Inhalt
»Mit Zimt und Zucker«

Vorbemerkungen 7
Zurück nach Fredeburg 9
Die Verwandten 11
Fahrten nach Lenne 16
Schatten des Krieges 19
Das Weißbrot 23
Radetzkymarsch, die tote Oma
und die Fallsucht 26
Krieg in Fredeburg 30
Die Besatzungsmacht 36
Neue Werte, neue Spiele 41
Der Ernst des Lebens 47
Schnee 49
Weihnachten und Silvester 1945 53
Karneval und Ostern 1946 59
Im Rhythmus der Jahreszeiten 64
Der Milchkrug 71
Erntezeit und Schulspeise 76
Früchte aus Wald und Feld 80
Wiederaufbau 82
Der Winter naht 86
Eine neue Wohnung 89
Holztransport und Skivergnügen 94
Eine Reise nach Köln 97
Der Fußballhimmel 113
Schützenfest 1947 117
Der Badekump 121
Mäuse, Fische und ein übler Streich 126
Brennholz und Misstrauen 133
Meine erste heilige Kommunion 1948 139
Die Währungsreform 1948 145
Die Fahrradtour 150
Messdiener 153
Der Große Würger 161
Schlittschuhe 163
Wildfütterung und Wintersport 168
Lehrer Trumm 172
Landleben 175
Ein neues Radio und alte Indianer 182
Schulgeschichten 185
Das Zeltlager an der Ostsee 189
Große Ereignisse 195
Der Schritt ins Leben 199

Die Geschichte Fredeburgs 201

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