Stadtluft
macht frei
Abnabelung
Meine Heimatstadt ist Görlitz. Hier wuchs ich als älteste
von drei Töchtern in einem bürgerlichen Elternhaus auf.
Die Eltern, Erich und Hedwig Röhr, beide Lehrer, hatten 1911 geheiratet.
Als Ehefrau eines Beamten mußte meine Mutter nach damaligen Bestimmungen
ihre Unterrichtstätigkeit nach der Heirat aufgeben. So wurde sie
Hausfrau und bekam drei Kinder: 1913 mich, 1918 Elisabeth, 1919 Eva.
Mein Vater, der im Ersten Weltkrieg bei Verdun gekämpft hatte,
kehrte 1918 zwar äußerlich unverletzt heim, aber seine Nerven
waren durch die Kriegserlebnisse sehr angegriffen, was sich im Zusammenleben
mit der Familie entsprechend auswirkte. Meine Mutter flüchtete
sich in die Krankheit. Kein Wunder, daß ich trotz engster Verbundenheit
mit Eltern und Schwestern den Tag der Abnabelung herbeisehnte.
Unsere
Familie in Oberndorf/Hadeln, wo ich sie im Herbst 1945 besuchte. Mein
Vater weilte zu diesem Zeitpunkt allein in Görlitz. Obere Reihe:
Eva, ich und Eli, auf der Bank sitzend meine Mutter mit ihren Enkelkindern
Niko und Constanze.
Für
meine Eltern und mich stand fest, daß ich beruflich in ihre Fußstapfen
treten würde. Im Geiste sah ich mich schon vor der Klasse stehen.
Aber im Grunde hatte ich Angst davor. Würde meine Schüchternheit
mich nicht daran hindern, eine wirklich gute Lehrerin zu sein? Immer
wieder machte ich mir bewußt, genauso ein Mensch zu sein wie andere
aber so weit war es ja noch nicht und sollte es auch lange noch
nicht sein. Immer wieder sprach ich mir Mut zu: Die anderen können
es ja auch. Warum nicht ich? Vielleicht erging es den anderen genau
wie mir, und sie mußten ebensolche Ängste überwinden.
Und so arbeitete ich an meinem Selbstbewußtsein in einem jahrelangen
Zwiespalt, der sich erst durch die Kriegsereignisse verlor, als es ums
Überleben ging.
Die politischen Ereignisse der Jahre 1933/34 überschlugen sich.
Die Mädchen gingen freiwillig noch in den BDM (»Bund
Deutscher Mädel«) oder Arbeitsdienst, um studieren zu können.
Da ich mich weder organisieren lassen wollte noch dem bäuerlichen
Arbeiten zugeneigt war, versuchte mein Vater, mich an einer Pädagogischen
Hochschule unterzubringen. Er schrieb Gesuche nach Breslau und anderen
Städten, in denen eine Pädagogische Hochschule existierte,
oder ließ mich selbst welche schreiben. Vergeblich. Wir bekamen
eine Ablehnung nach der anderen, mit der Begründung, nur derjenige
erhalte die Erlaubnis zum Studium, der folgende Auflagen erfülle:
Abitur mit der Note »sehr gut« oder »gut«, Eintritt
in den BDM und Arbeitsdienst. Diese Einschränkung bezog sich aber
nur auf meinen Abiturjahrgang 1934. Danach ab 1935 wurde
es ohnehin für alle Pflicht, in den Arbeitsdienst zu gehen und
sich politisch zu organisieren. Das war aber 1934 noch nicht absehbar.
Zunächst wollte ich nur raus aus Görlitz, und so nahm ich
eine Stellung als Hauslehrerin für einen elfjährigen Schüler
über die Sommersaison in Heiligendamm an der Ostsee an. Hansi,
vergötterter Spätkömmling des Verwalterpaares eines Kaufmannserholungsheims,
besuchte das Gymnasium in Bad Doberan und brauchte Nachhilfe in Latein.
Das war für mich kein Problem schon eher, daß ich
Mutter Lange vormittags während der Schulzeit in der Küche
zur Hand gehen sollte, was keineswegs verabredet worden war.
Das Verwalterpaar nahm mich freundlich in Empfang. Für mich war
es eine andere Welt, ich war schüchtern und zugleich neugierig
auf meine nächste Zukunft. Der erste Schreck ließ auch nicht
lange auf sich warten. Als ich die Koffer auspackte, rief man mir zu,
ich solle doch gleich meine Schürze umbinden und in die Küche
kommen. Hatte ich mich verhört? Hatte sie »Schürze«
gesagt? Ich besaß überhaupt keine Schürze und konnte
daher auch keine eingepackt haben. Das mußte ich nun eingestehen.
Hausfrau und Hausherr warfen sich ratlose Blicke zu, und ich stand ein
bißchen hilflos vor ihnen. Aber im Grunde stärkte das meine
Stellung: Die Küche war für mich tabu, das hatten sie begriffen.
Ich wurde also an die Seite der Buchhalterin ins Büro gesetzt und
durfte bis mittags Kurkarten ausschreiben und eventuell austragen. Danach
war ich Lehrerin, machte die Schularbeiten, paukte Vokabeln und Grammatik
mit Hansi, und am späten Nachmittag ging ich an den Strand
bis Oktober, Ende der Saison.
Ich hatte eine herrliche Zeit, erholte mich von der Schule und von meinem
strengen Elternhaus und traf einen entfernten Vetter aus Görlitz
wieder, Gerd Mörtz, der in Heiligendamm als Kurhauskoch arbeitete.
Es war das Bad für die Privilegierten und Adligen aber der
Ort strahlte nicht mehr so viel Exklusivität aus wie einst; man
begann, ihn der arbeitenden Bevölkerung zugänglich zu machen.
Einen kleinen Flirt hatte ich mit dem Geschäftsführer des
Kurhauses, einem großen, stattlichen Mann, dem ich aber offenbar
zu jung war für seine Absichten.
Die gelegentlichen Briefe aus Marklissa, einem kleinen Ort südöstlich
von Görlitz, von J. Sch., einem Juristen vor seinem zweiten Staatsexamen,
mit dem mich meine Eltern auch bereits verheiratet sahen, erfreuten
mich zwar, aber ich fand sie eher komisch und belächelte sie. Sie
waren mir zu romantisch: »Der Mond, mein Gedankenfreund, begleitet
mich auf meinen einsamen Spaziergängen im Wald ...«
Ich antwortete darauf einfach nicht mehr. Wir trafen uns später
noch einmal in Hirschberg, wo er wohl einsah, daß ich nicht die
richtige Frau für ihn war.
So sah
ich als kurzzeitige Studentin der Zahnmedizin in den Jahren 1942 bis
1943 aus.
Zwei Freunde der Familie Lange hatten mich im Juni zu einer kurzen Autofahrt
mitgenommen, als diese jäh gestoppt wurde. Aus Lautsprechern dröhnte
eine allseits bekannte Stimme Goebbels verkündete triumphierend
die Niederschlagung eines »Putschversuchs«: den Tod Ernst
Röhms, Stabschef der SA. 87 Gesinnungsgenossen wurden zusammen
mit ihm erschossen. Lähmendes Entsetzen. Die hintergründigen
Intrigen erkannte das Volk nicht. Hatte etwa jene Minderheit recht,
die bereits vor 1933 vor dem Nationalsozialismus gewarnt hatte? Immer
wieder dachte ich an die Worte meines Vaters: »Wenn man die Geschichte
kennt ...«
Im Oktober kehrte ich ohne eine berufliche Perspektive nach Görlitz
zurück. Was tun? Schließlich meldete ich mich in einem Abendnähkursus
an, wo ich tatsächlich eine Bluse zustande brachte, auf die ich
sehr stolz war: blau-rot gestreifte Seide mit Keulenärmeln. Schick
und vor allem hochmodern. Ja, die Mode interessierte mich sehr
und ich konnte mich kaum satt sehen an den eleganten Kleidern der Filmstars!
Greta Garbo und vor allem Lia de Putti hatten es mir besonders angetan.
Ich versuchte sie zu imitieren, indem ich vor dem Spiegel eine ähnliche
Pose einnahm, beide Hände verschränkt unter dem Kinn, halbgeöffnete
Lippen, den Kopf etwas zurückgelehnt in den Nacken, sehnsuchtsvoller
Blick nach oben ... und dann im Profil ... Und so fotografierte mich
auch einmal Herr Devantié, Kollege meines Vaters, der in großen
Zeitabständen den Wunsch meiner Eltern erfüllte und uns Kinder
ablichtete. Dieses kleine Foto von mir fand ich hinreißend, und
ich zeigte es J. Sein Kommentar lautete: »Wie eine drittklassige
Schauspielerin!«
Das war alles, und ich war maßlos enttäuscht über diese
herzlose Kritik.
Aber es nahm mir nicht die Freude, die vielen Filmbilder immer wieder
anzuschauen, die meine jüngste Schwester Eva mit großem Eifer
gesammelt hatte. Sie steckten in einem dicken Album, und manchmal durften
wir, ihre Schwestern Elisabeth und ich, es betrachten. Nein, es war
nicht so, daß ich mir einfach das Buch nehmen konnte, um darin
zu blättern. Evel hatte die Sammlung sorgsam zusammengetragen und
berührte die schönen Bilder, um sie zu schonen, nicht mit
bloßer Hand sie zog sich Handschuhe über und faßte
das Album nur ganz vorsichtig an den Seitenecken an. Sie saß am
Tisch vor dem großen Buch, und wir, Eli und ich, standen links
und rechts neben ihr und schauten ihr über die Schulter. Eva hatte
im Laufe der Zeit mehrere Alben zusammengetragen, wahre Zeitdokumente.
Leider sind sie alle verlorengegangen.
Inzwischen waren einige Mitabiturienten, die genau wie ich zum Studium
nicht zugelassen wurden, nach Berlin gegangen, um sich in den Korrespondentenklassen
in Sprachen ausbilden zu lassen. Die Höhere Handelsschule war eine
Abteilung des »Lette-Vereins« in Berlin-Schöneberg,
der vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten anbot: Fotolaborantin,
Medizinisch-technische Assistentin und anderes. Er war 1866 von Wilhelm
Adolf Lette als »Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit
des weiblichen Geschlechts« gegründet worden und nach dessen
Tod in »Lette-Verein« umbenannt worden.
Am Viktoria-Luise-Platz
in Berlin-Schöneberg befindet sich auch heute noch der traditionsreiche
Lette-Verein, bei dem ich von 1935 bis 1936 meine Ausbildung zur Korrespondentin
absolvierte. Das Schulgelände betritt man durch das Portal an der
Hausnummer 6, in der rechten Bildhälfte zwischen den beiden Häusern
mit Ecktürmchen.
Da ich ohnehin am liebsten Sprachen studiert hätte, war ich sehr
froh über die Aussicht, mich wenigstens mit Sprachen beschäftigen
zu können. Und vor allem brauchte man nicht organisiert zu sein.
Meine Freundin Hanni Ullmann aus der Parallelklasse hatte sich schon
ein halbes Jahr zuvor zu dieser Lösung entschlossen.
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Inhalt
»Zwischen
Tanztee und Naziterror«
Stadtluft
macht frei
19351939
Abnabelung
7
Das Lette-Haus 11
Berlin, Berlin! 16
Lehrjahre sind keine Herrenjahre 26
Meine Rackow-Schule 34
Turbulenzen 39
»Reichskristallnacht« 48
Überfall 50
Das eigene Heim der Familie in Groß-Biesnitz 52
Ruhe vor dem Sturm 55
Täglich
Krieg
19391945
Kriegsausbruch
58
Schock 59
Mitgefangen mitgehangen 62
Der Student und die Lehrerin 63
Ausreisepläne 66
Zwischen allen Stühlen 69
Berlin W 15 Fasanenstraße 72
Eleganz unterm Ladentisch 76
Eli und Eva 78
Marion 82
Die Kur in Kudowa 84
Trennungen 86
Evas Wunschkind 90
Der Sklavenmarkt 92
Carpe diem 95
Eine schwere Geburt 97
Aus
der Traum 100
Die falsche Weiche 101
Holzfäller im Grunewald 103
Familienzuwachs 106
Der Silberschatz 108
Irmgards Leiden 110
Flucht der Familie aus Görlitz 117
Warten auf das Ende 120
Die Sieger 122
Reise ins Ungewisse 125
Angekommen 130
Riskantes Unterfangen 133
Ein gefährlicher Ausflug 136
Zurück nach Berlin 138
Autorin
Ursula
Hofmann, geboren als Ursula Röhr 1913 in Görlitz. 1935 bis
1936 Besuch eines Abiturientenkurses der Höheren Handelsschule
des Lette-Vereins in Berlin. 1937 Fachlehrerprüfung für Stenographie,
anschließend bis 1942 Lehrerin für Kurzschrift und Maschinenschreiben
an der Rackow-Schule Berlin. 1939 bis 1943 verheiratet mit Berthold
Röhl, 1947 bis 1970 Fachlehrerin an der Handelsschule Rackow in
Hamburg, 1970 bis 1977 Fachlehrerin für Maschinenschreiben im hamburgischen
Schuldienst. 1953 bis 2003 verheiratet mit Holger Hofmann. Ursula Hofmann
hat eine Tochter und zwei Enkel. Sie lebt in Hamburg.
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