Leseprobe

Ursula Hofmann
Zwischen Tanztee und Naziterror
Meine Berliner Jahre 1935-1945

Broschiert, 152 Seiten,
zahlreiche Abbildungen.
Sammlung der Zeitzeugen (21)
ISBN 3-933336-69-4
16,80 EUR


Kurzbeschreibung
Leseprobe: Stadtluft macht frei
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Autorin


Kurzbeschreibung

Berlin 1933: Theater, Kino und Kabarett haben noch den Schwung der zwanziger Jahre, während der Terror der Nazidiktatur Einzug hält. Die 22jährige Abiturientin Ursula kommt 1935 aus der Provinzstadt Görlitz in die brodelnde Metropole. Sie will sich von ihrem strengen Elternhaus befreien und Lehrerin werden. Nach einer Ausbildung zur Stenotypistin im Lette-Verein führt ihr Weg sie zur renommierten Rackow-Handelsschule. Ursula wird zur Stenographie-Lehrerin ausgebildet. Fortan steht sie mit Leib und Seele bei Rackow vor der Klasse.

Doch was wäre ein Leben in Berlin ohne Tanztee im »Krollgarten« und abendliches Vergnügen in der berühmten »Roxy-Bar«? Ohne den Nachmittagskaffee im »Kranzler« und den Ku’damm-Bummel? Ursula genießt die Stadt in vollen Zügen und in wechselnder männlicher Begleitung. Erst der fortschreitende Krieg mit den immer häufigeren Bombenangriffen auf Berlin drängt die Sorge ums Überleben in ihren Alltag.

Bewegend und mit einem Schuß Selbstironie schildert Ursula Hofmann ihre Berliner Jahre. Ihre lebendigen Erinnerungen an Terror und Alltag im Dritten Reich verdichten sich zum Lebensbericht einer Frau, die - als »politisch nicht zuverlässig« eingestuft - immer wieder in Konflikt mit dem NS-Regime gerät.


Stadtluft macht frei

Abnabelung


Meine Heimatstadt ist Görlitz. Hier wuchs ich als älteste von drei Töchtern in einem bürgerlichen Elternhaus auf.
Die Eltern, Erich und Hedwig Röhr, beide Lehrer, hatten 1911 geheiratet. Als Ehefrau eines Beamten mußte meine Mutter nach damaligen Bestimmungen ihre Unterrichtstätigkeit nach der Heirat aufgeben. So wurde sie Hausfrau und bekam drei Kinder: 1913 mich, 1918 Elisabeth, 1919 Eva.

Mein Vater, der im Ersten Weltkrieg bei Verdun gekämpft hatte, kehrte 1918 zwar äußerlich unverletzt heim, aber seine Nerven waren durch die Kriegserlebnisse sehr angegriffen, was sich im Zusammenleben mit der Familie entsprechend auswirkte. Meine Mutter flüchtete sich in die Krankheit. Kein Wunder, daß ich trotz engster Verbundenheit mit Eltern und Schwestern den Tag der Abnabelung herbeisehnte.

Unsere Familie in Oberndorf/Hadeln, wo ich sie im Herbst 1945 besuchte. Mein Vater weilte zu diesem Zeitpunkt allein in Görlitz. Obere Reihe: Eva, ich und Eli, auf der Bank sitzend meine Mutter mit ihren Enkelkindern Niko und Constanze.


Für meine Eltern und mich stand fest, daß ich beruflich in ihre Fußstapfen treten würde. Im Geiste sah ich mich schon vor der Klasse stehen. Aber im Grunde hatte ich Angst davor. Würde meine Schüchternheit mich nicht daran hindern, eine wirklich gute Lehrerin zu sein? Immer wieder machte ich mir bewußt, genauso ein Mensch zu sein wie andere – aber so weit war es ja noch nicht und sollte es auch lange noch nicht sein. Immer wieder sprach ich mir Mut zu: Die anderen können es ja auch. Warum nicht ich? Vielleicht erging es den anderen genau wie mir, und sie mußten ebensolche Ängste überwinden. Und so arbeitete ich an meinem Selbstbewußtsein in einem jahrelangen Zwiespalt, der sich erst durch die Kriegsereignisse verlor, als es ums Überleben ging.

Die politischen Ereignisse der Jahre 1933/34 überschlugen sich. Die Mädchen gingen – freiwillig noch – in den BDM (»Bund Deutscher Mädel«) oder Arbeitsdienst, um studieren zu können. Da ich mich weder organisieren lassen wollte noch dem bäuerlichen Arbeiten zugeneigt war, versuchte mein Vater, mich an einer Pädagogischen Hochschule unterzubringen. Er schrieb Gesuche nach Breslau und anderen Städten, in denen eine Pädagogische Hochschule existierte, oder ließ mich selbst welche schreiben. Vergeblich. Wir bekamen eine Ablehnung nach der anderen, mit der Begründung, nur derjenige erhalte die Erlaubnis zum Studium, der folgende Auflagen erfülle: Abitur mit der Note »sehr gut« oder »gut«, Eintritt in den BDM und Arbeitsdienst. Diese Einschränkung bezog sich aber nur auf meinen Abiturjahrgang 1934. Danach – ab 1935 – wurde es ohnehin für alle Pflicht, in den Arbeitsdienst zu gehen und sich politisch zu organisieren. Das war aber 1934 noch nicht absehbar.

Zunächst wollte ich nur raus aus Görlitz, und so nahm ich eine Stellung als Hauslehrerin für einen elfjährigen Schüler über die Sommersaison in Heiligendamm an der Ostsee an. Hansi, vergötterter Spätkömmling des Verwalterpaares eines Kaufmannserholungsheims, besuchte das Gymnasium in Bad Doberan und brauchte Nachhilfe in Latein. Das war für mich kein Problem – schon eher, daß ich Mutter Lange vormittags während der Schulzeit in der Küche zur Hand gehen sollte, was keineswegs verabredet worden war.

Das Verwalterpaar nahm mich freundlich in Empfang. Für mich war es eine andere Welt, ich war schüchtern und zugleich neugierig auf meine nächste Zukunft. Der erste Schreck ließ auch nicht lange auf sich warten. Als ich die Koffer auspackte, rief man mir zu, ich solle doch gleich meine Schürze umbinden und in die Küche kommen. Hatte ich mich verhört? Hatte sie »Schürze« gesagt? Ich besaß überhaupt keine Schürze und konnte daher auch keine eingepackt haben. Das mußte ich nun eingestehen. Hausfrau und Hausherr warfen sich ratlose Blicke zu, und ich stand ein bißchen hilflos vor ihnen. Aber im Grunde stärkte das meine Stellung: Die Küche war für mich tabu, das hatten sie begriffen. Ich wurde also an die Seite der Buchhalterin ins Büro gesetzt und durfte bis mittags Kurkarten ausschreiben und eventuell austragen. Danach war ich Lehrerin, machte die Schularbeiten, paukte Vokabeln und Grammatik mit Hansi, und am späten Nachmittag ging ich an den Strand – bis Oktober, Ende der Saison.

Ich hatte eine herrliche Zeit, erholte mich von der Schule und von meinem strengen Elternhaus und traf einen entfernten Vetter aus Görlitz wieder, Gerd Mörtz, der in Heiligendamm als Kurhauskoch arbeitete. Es war das Bad für die Privilegierten und Adligen – aber der Ort strahlte nicht mehr so viel Exklusivität aus wie einst; man begann, ihn der arbeitenden Bevölkerung zugänglich zu machen.

Einen kleinen Flirt hatte ich mit dem Geschäftsführer des Kurhauses, einem großen, stattlichen Mann, dem ich aber offenbar zu jung war für seine Absichten.

Die gelegentlichen Briefe aus Marklissa, einem kleinen Ort südöstlich von Görlitz, von J. Sch., einem Juristen vor seinem zweiten Staatsexamen, mit dem mich meine Eltern auch bereits verheiratet sahen, erfreuten mich zwar, aber ich fand sie eher komisch und belächelte sie. Sie waren mir zu romantisch: »Der Mond, mein Gedankenfreund, begleitet mich auf meinen einsamen Spaziergängen im Wald ...«
Ich antwortete darauf einfach nicht mehr. Wir trafen uns später noch einmal in Hirschberg, wo er wohl einsah, daß ich nicht die richtige Frau für ihn war.

So sah ich als kurzzeitige Studentin der Zahnmedizin in den Jahren 1942 bis 1943 aus.


Zwei Freunde der Familie Lange hatten mich im Juni zu einer kurzen Autofahrt mitgenommen, als diese jäh gestoppt wurde. Aus Lautsprechern dröhnte eine allseits bekannte Stimme – Goebbels verkündete triumphierend die Niederschlagung eines »Putschversuchs«: den Tod Ernst Röhms, Stabschef der SA. 87 Gesinnungsgenossen wurden zusammen mit ihm erschossen. Lähmendes Entsetzen. Die hintergründigen Intrigen erkannte das Volk nicht. Hatte etwa jene Minderheit recht, die bereits vor 1933 vor dem Nationalsozialismus gewarnt hatte? Immer wieder dachte ich an die Worte meines Vaters: »Wenn man die Geschichte kennt ...«

Im Oktober kehrte ich ohne eine berufliche Perspektive nach Görlitz zurück. Was tun? Schließlich meldete ich mich in einem Abendnähkursus an, wo ich tatsächlich eine Bluse zustande brachte, auf die ich sehr stolz war: blau-rot gestreifte Seide mit Keulenärmeln. Schick und vor allem hochmodern. Ja, die Mode interessierte mich sehr‚ und ich konnte mich kaum satt sehen an den eleganten Kleidern der Filmstars! Greta Garbo und vor allem Lia de Putti hatten es mir besonders angetan. Ich versuchte sie zu imitieren, indem ich vor dem Spiegel eine ähnliche Pose einnahm, beide Hände verschränkt unter dem Kinn, halbgeöffnete Lippen, den Kopf etwas zurückgelehnt in den Nacken, sehnsuchtsvoller Blick nach oben ... und dann im Profil ... Und so fotografierte mich auch einmal Herr Devantié, Kollege meines Vaters, der in großen Zeitabständen den Wunsch meiner Eltern erfüllte und uns Kinder ablichtete. Dieses kleine Foto von mir fand ich hinreißend, und ich zeigte es J. Sein Kommentar lautete: »Wie eine drittklassige Schauspielerin!«
Das war alles, und ich war maßlos enttäuscht über diese herzlose Kritik.

Aber es nahm mir nicht die Freude, die vielen Filmbilder immer wieder anzuschauen, die meine jüngste Schwester Eva mit großem Eifer gesammelt hatte. Sie steckten in einem dicken Album, und manchmal durften wir, ihre Schwestern Elisabeth und ich, es betrachten. Nein, es war nicht so, daß ich mir einfach das Buch nehmen konnte, um darin zu blättern. Evel hatte die Sammlung sorgsam zusammengetragen und berührte die schönen Bilder, um sie zu schonen, nicht mit bloßer Hand – sie zog sich Handschuhe über und faßte das Album nur ganz vorsichtig an den Seitenecken an. Sie saß am Tisch vor dem großen Buch, und wir, Eli und ich, standen links und rechts neben ihr und schauten ihr über die Schulter. Eva hatte im Laufe der Zeit mehrere Alben zusammengetragen, wahre Zeitdokumente. Leider sind sie alle verlorengegangen.
Inzwischen waren einige Mitabiturienten, die genau wie ich zum Studium nicht zugelassen wurden, nach Berlin gegangen, um sich in den Korrespondentenklassen in Sprachen ausbilden zu lassen. Die Höhere Handelsschule war eine Abteilung des »Lette-Vereins« in Berlin-Schöneberg, der vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten anbot: Fotolaborantin, Medizinisch-technische Assistentin und anderes. Er war 1866 von Wilhelm Adolf Lette als »Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts« gegründet worden und nach dessen Tod in »Lette-Verein« umbenannt worden.

Am Viktoria-Luise-Platz in Berlin-Schöneberg befindet sich auch heute noch der traditionsreiche Lette-Verein, bei dem ich von 1935 bis 1936 meine Ausbildung zur Korrespondentin absolvierte. Das Schulgelände betritt man durch das Portal an der Hausnummer 6, in der rechten Bildhälfte zwischen den beiden Häusern mit Ecktürmchen.


Da ich ohnehin am liebsten Sprachen studiert hätte, war ich sehr froh über die Aussicht, mich wenigstens mit Sprachen beschäftigen zu können. Und vor allem brauchte man nicht organisiert zu sein. Meine Freundin Hanni Ullmann aus der Parallelklasse hatte sich schon ein halbes Jahr zuvor zu dieser Lösung entschlossen.

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Inhalt »Zwischen Tanztee und Naziterror«

Stadtluft macht frei
1935–1939

Abnabelung 7
Das Lette-Haus 11
Berlin, Berlin! 16
Lehrjahre sind keine Herrenjahre 26
Meine Rackow-Schule 34
Turbulenzen 39
»Reichskristallnacht« 48
Überfall 50
Das eigene Heim der Familie in Groß-Biesnitz 52
Ruhe vor dem Sturm 55

Täglich Krieg
1939–1945

Kriegsausbruch 58
Schock 59
Mitgefangen – mitgehangen 62
Der Student und die Lehrerin 63
Ausreisepläne 66
Zwischen allen Stühlen 69
Berlin W 15 – Fasanenstraße 72
Eleganz unterm Ladentisch 76
Eli und Eva 78
Marion 82
Die Kur in Kudowa 84
Trennungen 86
Evas Wunschkind 90
Der Sklavenmarkt 92
Carpe diem 95
Eine schwere Geburt 97

Aus der Traum 100
Die falsche Weiche 101
Holzfäller im Grunewald 103
Familienzuwachs 106
Der Silberschatz 108
Irmgards Leiden 110
Flucht der Familie aus Görlitz 117
Warten auf das Ende 120
Die Sieger 122
Reise ins Ungewisse 125
Angekommen 130
Riskantes Unterfangen 133
Ein gefährlicher Ausflug 136
Zurück nach Berlin 138


Autorin

Ursula Hofmann, geboren als Ursula Röhr 1913 in Görlitz. 1935 bis 1936 Besuch eines Abiturientenkurses der Höheren Handelsschule des Lette-Vereins in Berlin. 1937 Fachlehrerprüfung für Stenographie, anschließend bis 1942 Lehrerin für Kurzschrift und Maschinenschreiben an der Rackow-Schule Berlin. 1939 bis 1943 verheiratet mit Berthold Röhl, 1947 bis 1970 Fachlehrerin an der Handelsschule Rackow in Hamburg, 1970 bis 1977 Fachlehrerin für Maschinenschreiben im hamburgischen Schuldienst. 1953 bis 2003 verheiratet mit Holger Hofmann. Ursula Hofmann hat eine Tochter und zwei Enkel. Sie lebt in Hamburg.