Leseproben
aus »Vermißt in Stalingrad«
Vorwort
Dieses Buch erzählt von meinen Erlebnissen als junger deutscher
Soldat auf dem langen Marsch nach Stalingrad, während der Monate
im Kessel und in den darauffolgenden Jahren meiner russischen Gefangenschaft.
Ich erlebte die Hölle von Stalingrad.
Die langen Jahre meiner Gefangenschaft sind für mich von besonderer
Bedeutung. Jahrzehntelang habe ich meine Erlebnisse in Beketowka, einem
der berüchtigtsten sowjetischen Kriegsgefangenenlager, verdrängt
und darüber geschwiegen. Einerseits wollte ich den Angehörigen
der vielen vermißten Soldaten die erschütternde Wahrheit
über die dortigen Zustände ersparen. Andererseits befürchtete
ich, man würde meiner Darstellung keinen Glauben schenken.
Im Januar 2003 jährte sich die Tragödie von Stalingrad zum
sechzigsten Mal. In den Medien erschienen viele Beiträge über
das Schicksal der deutschen Soldaten bis zur Auflösung des Kessels.
Diese teilweise schonungslose Berichterstattung bewog mich als einen
der wenigen heute noch lebenden Zeitzeugen dazu, über mein Leben
und Leiden in Stalingrad und während der Gefangenschaft zu sprechen
und zu schreiben.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß die menschenverachtenden
Zustände im Todeslager Beketowka seitens des sowjetischen Regimes
nicht beabsichtigt waren. Auch das sowjetische Militär und die
Zivilbevölkerung hungerten, doch niemand war Herr der Lage.
Für viele mag ein Teil der hier gezeigten Fotos aus Stalingrad
eine Zumutung sein. Erst im Januar 2005 stieß ich durch Zufall
in einem privaten Archiv auf sie. Für mich war es eine, zuerst
erschreckende, Begegnung mit meiner Vergangenheit. Doch inzwischen bin
ich froh, daß es die Fotos gibt und ich sie noch einmal sehen
konnte. Sie sind mir selbst und anderen Beweis, daß es diese Hölle
wirklich gab.
Dieter Peeters
Düsseldorf im Januar 2005
Auf
dem Vormarsch
Stalingrad-Mitte,
19. November 1942 – endlich hatte ich ihn in der Tasche: meinen
Heimat-Urlaubsschein. Seit vielen Monaten hatte ich mich auf diesen
Tag gefreut.
Anfang 1941, gerade 19 Jahre alt, war ich zusammen mit sechs weiteren
Rheinländern nach Linz an der Donau eingezogen worden. Infolge
der weiten Entfernung zu unseren Heimatorten bestand für uns –
im Gegensatz zu den Rekruten aus Österreich – in den wenigen
Monaten der Ausbildung keine Möglichkeit, Heimaturlaub zu nehmen.
So kam es, daß wir im Sommer 1941 nach Rußland ausrückten,
ohne unsere Familien während unserer Soldatenzeit jemals besucht
zu haben.
In Rußland waren drei von uns der gleichen Kompanie zugeteilt
worden. Sie bestand aus älteren, erfahrenen Soldaten, die am Frankreichfeldzug
teilgenommen hatten. Wir stießen als Ersatz für gefallene
Rekruten zu ihnen. Bereits in den ersten Monaten verlor ich die beiden
Kameraden, mit denen ich ausgebildet worden war. Einer von ihnen wurde
schwerverwundet in die Heimat gebracht, der andere fiel bald darauf.
So blieb ich als einziger von uns Neulingen am Leben.
Da ich angeblich jünger wirkte, als ich war, wurde ich von allen
in der Kompanie nur »Pimpf« gerufen. In schwierigen Situationen
fühlten sich die Älteren für mich verantwortlich, was
mir oft sehr geholfen hat. Fast alle meine Kameraden waren verheiratet
und erhielten im Laufe des Jahres 1942 Heimaturlaub. Ich war erst mit
den letzten an der Reihe. Mein Heimweh war groß, und ich sehnte
mich danach, meine Familie nach fast zwei Jahren endlich wiederzusehen.
Doch als wir am Morgen des 20. November 1942 unseren Urlaub antreten
wollten, erreichte uns die Meldung, daß eine allgemeine Urlaubssperre
verhängt worden sei. Der Grund: Wir waren eingeschlossen. Damit
entschied sich mein weiteres Schicksal. Noch heute stelle ich mir die
Frage: Was wäre mit mir geschehen, wenn ich den Urlaub vor der
Sperre hätte antreten können?
Wie konnte
es zu dieser Situation kommen?
Frühling 1942: Im Süden der Ostfront hatte die Frühjahrsoffensive
begonnen, und wir verließen unser Winterquartier am Fluß
Mius. Ein eigenartiger Krieg begann. Die deutschen Panzereinheiten stießen
schnell vor, aber die Russen zogen sich nicht geschlossen zurück.
In dieser Zeit geschah es oft, daß in einem Dorf noch sowjetische
Soldaten lagen, während benachbarte Dörfer bereits von uns
besetzt worden waren.
Als
Melder auf dem neuen Drahtesel, den ich im Frühsommer 1942 erhalten
hatte. Endlich mußte ich meinen Dienst nicht mehr zu Fuß
verrichten.
Mai
1942: Ich backe Kuchen. Einen Teil der Zutaten hatte mein Kamerad Peter
von seinem Heimaturlaub mitgebracht.
Einmal hatten wir in einem russischen Bauernhaus mit den typischen Lehmwänden
übernachtet und waren morgens gerade im Begriff aufzubrechen. Meine
Kameraden hatten die Hütte schon verlassen, nur ich kniete noch
am Boden vor der Fensterluke und kämpfte mit dem Riemen meines
Rucksacks, der sich nicht schließen ließ. Der Zugführer,
der direkt vor dem Fenster stand und an die Scheibe klopfte, rief mir
von draußen zu: »Beeilung, komm endlich heraus, Pimpf!«
In diesem Augenblick schlug das Geschoß eines Granatwerfers in
unmittelbarer Nähe des Hauses ein. Ich warf mich auf den Boden,
aber es blieb bei diesem einzelnen Schuß, der ungezielt auf unser
Dorf abgefeuert worden war.
Draußen herrschte zuerst lautes Geschrei – dann lähmende
Stille. Ich lief hinaus und sah, daß mehrere Kameraden tödlich
getroffen worden waren.
Vor dem Fenster lag mein Zugführer, der mich gerade noch gerufen
hatte. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Ein großer Splitter
hatte seinen Kopf getroffen und steckte noch in seinem Körper.
Nur zwei Meter entfernt, nur durch eine Lehmwand von ihm getrennt, hatte
ich lediglich ein paar Glassplitter abbekommen.
Wir fertigten Holzkreuze an, die ich mit den Namen der Gefallenen beschriftete.
An diesem Tag verlor ich nicht nur meinen Vorgesetzten, sondern in ihm
auch einen väterlichen Freund, der mir seit meinen ersten Tagen
in Rußland in gefährlichen Momenten beigestanden und mir
mehrmals das Leben gerettet hatte.
Unzählige
Kameraden ließen auf dem Vormarsch nach Stalingrad ihr Leben und
wurden an Ort und Stelle begraben.
Der 23.
Mai l942 war ein schöner Frühlingstag. Ich erinnere mich gut
– es war der Geburtstag meiner Mutter. Unsere Einheit befand sich
wieder auf dem Vormarsch und folgte den vorauseilenden Panzereinheiten,
wobei wir meistens etwa zehn Kilometer pro Stunde zurücklegten.
Toni, der Bursche unseres Kompanieführers, war wie ich als Melder
eingesetzt worden. Tags zuvor hatten wir jeweils ein neues Fahrrad erhalten
– endlich blieb uns das schmerzhafte Laufen erspart! Allerdings
hatte ich immer ein ungutes Gefühl, wenn ich bei der Ausführung
von Befehlen dazu gezwungen war, an den schwitzenden Kameraden vorbeizufahren.
Im späten
Frühjahr 1942 auf dem Vormarsch zur Wolga. Im Hintergrund ist eines
der typischen Bauernhäuser dieser Gegend zu sehen.
An diesem Vormittag gesellte sich Toni zu mir, und wir fuhren lange
Zeit nebeneinander am Ende unserer Kompanie. Der Weg führte durch
ein langgezogenes Tal – in dieser Gegend eine seltene Landschaftsform.
Toni, der aus einem Bergdorf in Österreich stammte, erinnerte dieser
Anblick an seine Heimat, und er begann, mir davon zu erzählen.
Als er gerade eine Einladung für die Zeit nach dem Krieg ausgesprochen
hatte, rief man den Befehl »Melder nach vorne« zu uns durch.
Ich war an der Reihe und wollte schon losfahren, als Toni mich mit den
Worten »Ich muß sowieso mal zum Alten« zurückhielt
und losfuhr.
Zwei bis drei Minuten später flog von hinten ein russischer Tiefflieger
auf unsere Marschkolonne zu. Wir warfen uns rechts und links des Weges
ins Feld. An der Spitze der Kompanie fiel eine einzelne Bombe. Einige
von uns wurden verwundet. Unser Kompanieführer und mein Freund
Toni waren tödlich getroffen. Wieder versah ich zwei Holzkreuze
mit den Namen der Gefallenen, und wieder hatte ich einen guten Kameraden
und Freund verloren. Auf sein Kreuz schrieb ich: »Wir werden dich
nicht vergessen.« (...)
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Inhalt »Vermißt
in Stalingrad«
Vorwort
7
Auf
dem Vormarsch 9
Eingekesselt
23
Karte
des Kessels 26
Marsch
in die Gefangenschaft 43
Das
Todeslager von Beketowka 54
Im
Lazarett 66
Waldarbeiter
in Wolosniza 69
Am
Ende meiner Kräfte 80
Heimkehr
83
Nachwort
90
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