Buchcover
In schweren Zeiten braucht man Glück
23 Zeitzeugen erzählen 
1939-1952
129 Seiten, viele Abbildungen

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Gebt sie frei!

Geschichte von Waltraud Guthsmuths

Berlin-Britz; 21. Dezember 1949

Der Präsident des Bundesrates, Karl Arnold, veröffentlichte am 14. Oktober 1949 einen Appell zum Tag des Kriegsgefangenen mit dem Titel: Gebt sie frei! Allein das Gebot der Menschlichkeit gebe dem deutschen Volk das Recht, die Rückkehr der Kriegsgefangenen mit allen Mitteln zu fordern.

Unter meiner Wohnungstür war ein Zettel durchgeschoben worden: „Karl-Heinz Guthsmuths wurde heute im Radio aufgerufen.“ Darunter stand der Name einer Nachbarin.
Ich wußte sofort, was diese kurze Nachricht bedeutete, denn wer Zeit und ein Radio hatte, hörte nachmittags zu, wenn im RIAS die Namen der am nächsten Tag in Berlin eintreffenden Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft verlesen wurden. Und wer es aushalten konnte. Ich gehörte nicht dazu, nicht mehr. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, auf den Buchstaben G zu warten. Die Enttäuschung war zu furchtbar.
Nun schlug mein Herz wie wild, ich mußte mich setzen. Heinz kommt. Das Hämmern in meinem Kopf ließ vorerst keinem weiteren Gedanken Raum an diesem verregneten, kalten Spätnachmittag des 21. Dezember 1949 – drei Tage vor Weihnachten. Langsam beruhigte sich mein Puls und das Hämmern im Kopf wurde leiser. Ich war froh, gerade allein zu sein, um über den morgigen Tag nachzudenken. Später kam meine Mutter, außer Atem von dem weiten Weg und in Tränen aufgelöst. Sie würde am nächsten Tag bei den Kindern bleiben, denn die Heimkehrerzüge kamen immer früh um 5 Uhr auf einem der vielen zerbombten Berliner Bahnhöfe an. Das hieß, um 3 Uhr die Wohnung zu verlassen.
Schlafen konnte ich nicht in dieser Nacht. Meine Gedanken drehten sich im Kreis: Kommt er wirklich? Übersteht er auch noch die Strapazen von vier Wochen Fahrt im eisigkalten Güterzug? Wie krank ist er, kann er sich von den Jahren in unmenschlicher Gefangenschaft erholen? Wie würden unsere Kinder ihn nach sieben Jahren Entfremdung annehmen? Würden wir uns überhaupt innerlich wiederfinden? Wir waren nicht mehr die, die vor sieben Jahren getrennt wurden.
Keine Antworten auf die brennenden Fragen, wenig Hoffnung, fast nur Angst vor den Folgen des kommenden Tages, bis es endlich Zeit wurde zum Aufstehen.

Der dunkle Morgen auf dem fast ganz zerstörten Bahnsteig des Lehrter Bahnhofes ist für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt. In weiten Abständen baumelten einige wenige 25-Watt-Birnen an einem Draht über den Köpfen der unübersehbar vielen Mitwartenden. Es war kalt, ein eisiger Wind pfiff durch die ausgebrannte Ruine und ich fror in meiner unzulänglichen Kleidung. Es wurde wenig geredet, es war fast still, obwohl der Bahnsteig brechend voll war. Wenigstens hatte ich mir einen erhöhten Platz erkämpft, als der Zug einfuhr und seine Fracht freigab. Ich sah nur graugesichtige, magere Elendsgestalten in den typisch russischen Wattejacken oder in den Lumpen alter Wehrmachtsuniformen. Viele trugen keine Schuhe, sondern Stofffetzen um die Füße. Etliche hatten Bündel oder Rucksäcke dabei. In kleinen Gruppen, die sich bereits gefunden hatten, leise Tränen und heftiges Weinen – vor Erleichterung, aus Mitleid, vor Erschöpfung. Panik kroch in mir hoch, unter den vielen Menschen meinen Heinz gar nicht zu finden – wenn er denn kam.
Ich wurde nicht nur vor Kälte langsam starr. Der Bahnsteig leerte sich, die Menschenmenge schob sich langsam die Treppen hinunter zum Ausgang. Unter den wenigen stehengebliebenen Heimkehrern war kein vertrautes Gesicht. Alles in mir erfror, Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu. Er war nicht zurückgekommen, Heinz war nicht heimgekehrt. Was sollte ich unseren drei Kindern sagen?
Mir schien eine Ewigkeit vergangen, bis ich mich zusammennehmen und mit den Nachzüglern in Richtung Ausgang die Treppe hinabgehen konnte. In der Unterführung trafen alle Aufgänge zusammen, es wurde wieder enger und ich wurde mit der Menge mehr geschoben als daß ich selber ging. Meine Füße wollten nicht und in meinem Kopf war kein klarer Gedanke. Plötzlich mußte ich mich umdrehen, völlig sicher, daß da Heinz war. Im gleichen Augenblick hörte ich ihn. „Traudel!“ – und mit heiserer Stimme – „ich wußte, daß du es bist.“
Geschichte aus dem Buch
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