Leseprobe aus dem Buch:
Mauer-Passagen Mauer-Passagen
Grenzgänge, Fluchten und Reisen 1961-1989
Reihe Zeitgut Band 19
Klappenbroschur, 14,90 Euro
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Bild Siebzig Meter Angst
DDR-Geschichten. Band 2
Zeitgut-Auswahl
Taschenbuch, 7,90 Euro

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Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei

Foto Heinz Csallner
An der Grenze zur DDR, nördlich des fränkischen Ortes Kronach.
Foto: Heinz Csallner 1978, aus der Geschichte "Halt! Stehenbleiben!" in "Mauer-Passagen"
Angst
Zeitzeugen-Erinnerung von Helga Brachmann; Leipzig 1973

„Was für ein gemeiner Scherz“, war mein erster Gedanke. Was hatte die Männerstimme eben am Telefon gesagt? – „Ihre Tochter Barbara ist in die Bundesrepublik geflüchtet.“
Das konnte doch nicht wahr sein! Wie sollte ein junges Mädchen den Stacheldraht, die Selbstschußanlagen und die Mauer überwinden?
An der Grenze wurde doch scharf geschossen! Und ein Schlupfloch im Eisernen Vorhang gab es doch auch nicht! Republikflucht im Jahr 1973 – das war lebensgefährlich, das war strafbar, auch für Mitwisser und Helfer.
Dann hatte der anonyme Anrufer hinzugefügt, Barbaras Freundin sei auch geflohen, ich solle der Mutter Bescheid geben, er wußte die Adresse. Ach ja – langsam konnte ich meine Gedanken ordnen –, ich hatte nach seinem Namen gefragt, er aber hatte stattdessen das Gespräch mit den Wor­ten beendet: „Barbara läßt Sie grüßen, Sie sollen ihr nicht böse sein und sie hätte Sie sehr lieb!“
Das war eine typische Redewendung meiner Tochter, kei­ne Frage. Wieder und wieder nahm ich die kurze Mitteilung zur Hand, die ich abends auf der Flurgarderobe gefunden hatte: „Bleibe übers Wochenende bei Joachim, komme über­morgen zurück. Tschüs! Babs.“
Joachim war ihr Freund, er besaß kein Telefon. Hoffent­lich war meine Tochter dort, am anderen Ende der Stadt!
Qualvolles Grübeln bis zum Morgen. Oder war Bärbel gar einem Verbrechen zum Opfer gefallen und der Täter wollte mich durch seinen Anruf auf eine falsche Spur führen?
Wie oft hatte ich meine Jüngste gebeten, sich nicht von Fremden im Auto mitnehmen zu lassen. Oder sollte gar die­ser Rheinländer eine Flucht organisiert haben?
Barbara hatte mir von einem „tollen West-Mann“ vorge­schwärmt, den sie in einer Gaststätte während der Leipzi­ger Frühjahrsmesse flüchtig kennengelernt hatte. Aber der Mann sei katholisch und verheiratet, habe auch drei Kinder. Es war doch unmöglich, daß dieser Kaufmann ein junges Mädchen unterstützen, geschweige denn aufnehmen konn­te! Was wollte Bärbel allein in einem anderen Land, ohne einen Pfennig Geld? Oder hatte sie ihr Sparbuch geplündert?
Aber der Umtausch brächte ja viel zuwenig‚ um sich eine Existenz aufbauen zu können! Und zu meinem Bruder konnte sie doch auch nicht gehen‚ die Wohnung war zu klein und mir wäre es schrecklich peinlich gewesen, wenn Bärbel mei­ne Verwandten um Unterstützung gebeten hätte!
Hier war das Zuhause meiner Tochter, hier begann in we­nigen Tagen das Medizinstudium‚ das sie so hartnäckig an­gestrebt hatte! Hier lebte ihr Freund, der junge Arzt Joa­chim! Und was würde diese Flucht für meine anderen Kin­der und mich bedeuten? Berufliche Nachteile? Oder gar Haft?
Gut, ich hatte nichts geahnt‚ aber ob man mir das glauben würde? Brachte man gar den kurzen Besuch bei meinem schwerkranken Vater in Stuttgart mit Bärbels Verschwin­den in Zusammenhang? Aber – da war keiner!

Fünf Monate waren seitdem vergangen. Konnte man mir daraus einen Strick drehen?
Und was würde nun aus meiner neuen und interessanten Tätigkeit an der Hochschule für Musik in Leipzig werden? Ich hatte nur die mündliche festversprochene Zusage. Wenn sich Barbaras Flucht als Tatsache erweisen würde‚ nähme mich kein staatliches Institut als Lehrkraft. Nur gut, daß ich die jetzige Stellung im Theater als Repetitorin noch nicht gekündigt hatte!
„Also doch, ich habe Babs schon seit einer Woche nicht gesehen“, stieß Joachim am nächsten Morgen wütend her­vor.
Verblüfft fragte ich: „Was heißt hier also doch?“
„Ein anderer Mann, natürlich! Hab ich‘s doch geahnt!“ Mehr war aus dem jungen Mann nicht herauszubringen.
Was für ein Mann? Bärbel hatte viele Verehrer. Ob es der Rheinländer war, dieser „tolle West-Mann“, dem ich damals beim Anruf zur Zeit der Frühjahrsmesse den Umgang mit meiner Tochter auszureden versucht hatte?
Barbara wußte doch, wie hart unerlaubter Grenzübertritt bestraft wurde! Ihr war auch klar, was diese Flucht für die übrige Familie bedeuten würde. Sie hatte mir ja selbst in allen Einzelheiten von der Verhaftung einer Kollegin erzählt, deren Freund in den Westen verschwunden war.
Wie mußte ich mich jetzt verhalten? Die Arbeit hatte mei­ne Tochter gekündigt, da würde man so schnell nichts mer­ken – aber sie war doch eingeschriebene Studentin! Es wür­de sehr auffallen, wenn jemand das Medizinstudium nicht antrat. Verheimlichte ich Bärbels Verschwinden, machte ich mich der ,Beihilfe zur Republikflucht‘ verdächtig.
Nach reiflichem Überlegen, etwa 24 Stunden nach dem anonymen Anruf, benachrichtigte ich das nächste Polizeire­vier und beschrieb die Ereignisse.
„Da müssen Se ‘ne Vermißtenmeldung aufgeben! Aber ich sag‘s Ihnen gleich, wenn wir jedes junge Mädchen suchen wollten, das mal nachts nicht heimkommt, hätten wir viel zu tun. Hab‘n Se ‘ne Garage? ... Ja? Sehen Sie dort nach! Hab‘n Se ‘nen Keller? ... Ja? Auch dort suchen! Schließlich gibt es ja auch bei uns Verbrechen. Hab‘n Se noch mehr Kin­der? ... Ach, alle erwachsen? Na, dann fahr‘n Se hin und fra­gen dort erstmal, auch die Freunde der Vermißten fragen, dann könn‘ Se wieder anrufen!“
Es war am späten Nachmittag des Sonntags, da würde ich die jungen Leute kaum alle antreffen. So bestellte ich die Taxe für den nächsten Morgen 6 Uhr. Quer durch die Stadt fahrend, befragte ich Kinder und Schwiegerkinder, auch Bär­bels Freundinnen. Nichts. Keiner wußte etwas.
Die Arbeit und die Konzentration darauf fielen mir schwer, immer wieder rollten mir Tränen aus den Augen – gegen meinen Willen. Endlich, am Abend, verschaffte mir ein An­ruf meines Bruders aus Stuttgart etwas Erleichterung.
„Ich wollte es anfangs gar nicht glauben, aber deine Jüng­ste ist auf irgendeine geheimnisvolle Weise über die Grenze nach West-Berlin gelangt. Sie rief hier an, ich soll dir sagen, es ginge ihr gut, und sie ließe wieder von sich hören!“
„Hast du die Adresse?“
„Weiß ich auch nicht, hat sie nicht nennen wollen!“
Meine Tochter lebt! Kein Verbrechen! Doch – wie ging es jetzt weiter?
Ich rief dieses Mal auf dem Polizeipräsidium an und mel­dete, was ich von meinem Bruder erfahren hatte. Bereits zwei Stunden später stand ein Eilbote vor der Tür, und ich wurde für den nächsten Vormittag zu einer Vernehmung bestellt.
Eine nicht endenwollende Fragerei und immerzu dassel­be in diesem kalten, grau-kahlen Raum! Als Mutter müßte ich doch wissen, mit wem meine Tochter Umgang hatte.
„Ich kontrolliere nicht eine 23jährige! Außerdem bin ich bei meinem Beruf oft abends nicht zu Hause!“
Aber dieses Argument beeindruckte den hartnäckigen Frager keineswegs. „Weshalb hat Ihre Tochter unsere Re­publik verlassen? Mit wem hatte sie im Westen Kontakt? Wer gab ihr die Anweisungen zur Flucht? Wer hat ihr geholfen? Wie war der Fluchtweg?“
Und immer wieder meine Antwort: „Ich weiß es doch auch nicht!“ Man drohte mir, vor Gericht würde man meine Mitwis­serschaft schon herausfinden, und ich sei mir doch wohl im klaren darüber, was unerlaubter Grenzübergang, Landesver­rat oder gar Spionage meiner Tochter für mich bedeutete?
In meiner Not äußerte ich die Vermutung‚ daß vielleicht der verheiratete West-Mann hinter der Flucht stecken kön­ne. Ich erzählte, daß ich am Telefon den Rheinländer gebe­ten hatte, sich von meiner Tochter zurückzuziehen, und daß wenige Wochen später ein Päckchen aus Köln gekommen sei. Daraufhin hatte ich brieflich meine Bitte wiederholt, sich nicht mehr zu melden.
„Dann kennen Sie also den Mann! Wie heißt er? Wo wohnt er?“
„Ich habe den Mann nie gesehen, ich weiß es nicht!“
„Das sagen Sie immerzu! Wie können Sie einen Brief ge­schrieben haben‚ wenn Sie Namen und Adresse des Mannes nicht kennen?“
„Ja, natürlich!“ Zum Glück fiel mir ein, daß ich seinerzeit die Anschrift des Absenders auf dem Packbogen abgeschrie­ben hatte, um den Brief abschicken zu können.
„Und wo ist die Adresse?“
„Ich habe sie nicht aufgehoben! Barbaras Freund wollte sie heiraten. Da fand ich es nicht gut, wenn ich die Anschrift eines anderen Verehrers in unser Verzeichnis geschrieben hätte. Aber vielleicht ist das Packpapier noch im Keller?“
„Na, das haben wir gleich!“
Und nun fuhren zwei in Zivil gekleidete Männer mit mir in meine Wohnung. Der gesuchte Packbogen fand sich schnell. Fast gleichzeitig kam die Post, ein Eilbrief.
„Das ist Bärbels Schrift“, entfuhr es mir. Ich mußte den Brief im Beisein der Fremden öffnen und lesen, dann nah­men sie mir das Schreiben weg. „Liebe Mama“, hatte da ge­standen, „sei mir nicht böse, ich hab’ Dich sehr lieb. Mir geht es gut. Ich melde mich wieder! Babs!“
Der Poststempel ließ deutlich Köln erkennen, ein Absen­der fehlte. Nun wurde das Packpapier geglättet – und rich­tig, der Mann wohnte in einem kleinen Ort nahe Köln.
„Da haben wir ja den Jugendfreund“, spottete einer der Männer. Mir war nun auch klar, daß der Verheiratete hinter Barbaras Flucht steckte. Wieder und wieder versuchte ich, die beiden herumstehenden Männer zu überzeugen, daß die­ses Verschwinden doch nichts mit Politik zu tun hatte. Jun­ge Mädchen seien zu allen Zeiten durchgebrannt, wenn es um die große Liebe ging.
„Das überprüfen wir noch! Von jetzt an übergeben Sie uns jeden Brief Ihrer Tochter! Sie dürfen ihn aber vorher öffnen und lesen!“ Dann wurde Barbaras Zimmer versiegelt.
Endlich war ich allein! Vor Angst war ich krank! Die Ge­richtsverhandlung! Auch war mir der Gedanke, daß mein Kind sich nun wahrscheinlich als Geliebte aushalten ließe, entsetzlich. Angst hatte ich auch vor dem Gefängnis. Bestraft sollte ich werden für etwas, das ich weder gewußt noch ver­anlaßt hatte! Ich brachte keinen Bissen herunter, nachts fand ich keine Ruhe.
Wochen vergingen‚ dann durchsuchten zwei Frauen Bär­bels Zimmer. Sie beschlagnahmten die Möbel, die Bücher, die Kleidung, den Plattenspieler, das Radio. „Das wird alles von uns abgeholt!“
„Darf ich denn gar nichts behalten? Schließlich sind das die Sachen meiner Tochter, das meiste hat sie doch von mir!“
„Sie können die Möbel von uns kaufen! Alles andere kommt weg!“ – So schrieb ich einen Scheck aus und „erwarb“ da­durch die Schrankwand und den Couchtisch. Dann begann das Durchwühlen der Einrichtung. Man fand Bärbels Adreß­büchlein, holte das noch unverbrannte Papier aus dem Ofen, leerte den Papierkorb aus. Jedes Zettelchen, jeder alte Brief­umschlag, jede Notiz – alles wurde gelesen.
„Wer ist das? Was bedeutet diese Abkürzung? Von wem ist diese Postkarte? Wer ist Häschen?“
Eine qualvolle Fragerei!
Das Sparbuch wurde gefunden. Vor einem Monat war eine größere Summe abgehoben worden.
„Aha, da hat also Ihre Tochter ihr Geld abgehoben, um es im Westen zum Schwindelkurs umzutauschen!“
„Aber nein, Barbara hat das Geld ihrer ältesten Schwe­ster zum Möbelkauf geborgt!“
„Das kann ja jeder behaupten! Beweise?“
Froh war ich, daß meine Tochter mir seinerzeit das form­lose Blatt gegeben hatte, auf dem meine Älteste sich ver­pflichtete, monatlich 500 Mark zurückzuzahlen.
„Und jetzt zahlt Ihre große Tochter an uns die Raten. Uns gehört jetzt das Sparbuch! Name und Adresse?“

Endlich ging man, das Zimmer wurde erneut versiegelt. Meine Furcht blieb und quälte mich weiter.
Nach einiger Zeit wurde Barbaras Zimmer ausgeräumt‚ bis auf die Möbelstücke, die ich „gekauft“ hatte. Zu meinem Schreck gaben mir die Männer den Schlüssel nicht, sondern schlossen ab und steckten ihn ein.
Ich protestierte. Barsch wurde ich zurechtgewiesen: „Nichts da, den Schlüssel müssen wir im Rathaus abliefern!“ Also, auf zum Wohnungsamt. Ich dachte, ich höre nicht recht: „Den Schlüssel behalten wir und weisen Ihnen eine Person in das freigewordene Zimmer ein!“
Das hatte mir noch gefehlt! Ein fremder Mensch in der klei­nen 2-Zimmer-Wohnung! Ich führte an, daß ich täglich auf dem Instrument üben müsse, daß ich oft zu Hause mit Kolle­gen probte. Und da hatte ich Glück! Mein Gegenüber erinner­te sich jetzt, daß ich Pianistin war und nach einigem Hin und Her bekam ich dann Bärbels Zimmerschlüssel zurück.
Die versprochene Arbeit an der Hochschule erhielt ich nicht. „Wir wissen schon Bescheid!“ So empfing mich der Prorektor. „Und im übrigen wird diese Stelle mit einem Ge­sellschaftswissenschaftler besetzt! Mit der Republikflucht Ih­rer Tochter hat das nichts zu tun. Wir sind doch keine Nazis, bei uns gibt es keine Sippenhaft!“
Nun, ich wußte es besser ...

Herbst, Winter, Frühling verstrichen. Da flatterte mir Barbaras Heiratsannonce ins Haus. Aus Köln! Mit dem tollen West-Mann! Erstaunlich, wie schnell es mit der Scheidung gegangen war. Ich schickte die Anzeige an das Polizeipräsi­dium mit der Bemerkung, nun sei es wohl erwiesen‚ daß es sich bei der Flucht meiner Tochter um Liebe gehandelt habe. Ich hörte nichts mehr! Ich begann aufzuatmen.
Nach neun Jahren machte eine Amnestie Bärbels Besuch hier möglich. Als junges Mädchen war sie fortgegangen, nun hatte sie zwei Kinder an der Hand!
Wie die aufregende Flucht im Kofferraum über die Gren­ze verlief, zugedeckt mit Stroh, das erfuhr ich erst nach dem Fall der Mauer.

Heute liegen die geschilderten Ereignisse viele Jahre zurück. Aber wenn ich an die Zeit nach Barbaras Verschwinden den­ke, davon erzähle oder darüber schreibe, fühle ich immer noch die Beklemmung, die Sorge, die Furcht und die ANGST von damals.

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