Leseprobe aus dem Buch:
Titel Endlich wieder tanzen gehen
Frauen-Erinnerungen 1945-1952
384 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-86614-150-6


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Bildquelle Rosemarie Kilian / Studio Stuckmann
Rosemarie Kilian in ihrer ersten Rolle am Theater in Bonn als Marketenderin in der "Richter von Zalamea". ca. 1958
Stuttgart, Baden-Württemberg; 1946–1949 

Endlich wieder Theater spielen (Ausschnitt)
Rosemarie Kilian
 
 Ende 1945 bot das Stuttgarter Staatstheater erste Vorstellungen an. Meine Bemühungen, dort Fuß zu fassen, endeten recht kläglich, da der Oberspielleiter sich erst meiner weiblichen Fähigkeiten versichern wollte.
Dann gab es das Schauspielhaus in der Kleinen Königstraße. Auf Initiative einiger Ensemblemitglieder und des unbelasteten Oberspielleiters Fred Schroer hatte sich ein Kollektiv zusammengefunden, das als „Stuttgarter Neues Theater“ auf Teilung spielte. Alle Kollegen waren punktmäßig am Gewinn beteiligt, während ein bestimmter Teil der Einnahmen für die Instandsetzung des Theaters eingesetzt wurde. Nicht jeder erhielt die gleiche Punktzahl und somit Auszahlung, aber der Punktwert schwankte kaum. Heinz Schroer, der Bruder des Oberspielleiters, war für die Finanzen und die Verwaltung zuständig, und er wußte genau einzuschätzen, was für Ausstattung und Anschaffungen im technischen Bereich zurückbehalten werden mußte. Er löste diese Aufgabe zur größten Zufriedenheit aller Beteiligten. Die Vorstellungen, oft auch zweimal täglich, waren immer ausverkauft. Auch die Kammerspiele in der Nähe des Bahnhofs, die weitgehend unter der handwerklichen Mithilfe der Kollegen entstanden waren, gehörten zu diesem Ensemble.

Ich meldete mich bei Fred Schroer, um ihm vorzusprechen. Auch bei ihm ohne Erfolg. Es traf mich hart, als er meinte, durch meine Tätigkeit als dienstverpflichtete Ansagerin während des Krieges hätte ich das Theaterspielen wohl verlernt. Doch kurze Zeit darauf teilte er mir mit, er wolle einen Versuch mit mir machen, einen Vertrag bekäme ich aber erst nach zehn Probentagen, wenn in der Arbeit Übereinstimmung erzielt sei.
Ursprünglich sollte Schroers Ehefrau, Anneliese Römer, die betreffende Rolle spielen, aber sie fühlte sich dafür nicht geeignet. Es handelte sich um die Emely in „Unsere kleine Stadt“ von Thorton Wilder. Eine Traumrolle. Das Reizvolle an dem Stück war die Anweisung des Autors, ohne alle Hilfsmittel – also ohne Bühnenbild und Requisiten – zu spielen. Man öffnete zum Beispiel unsichtbare Türen oder leckte, auf einem Barhocker sitzend, ein nicht vorhandenes Eis. Alles mußte mit größter Präzision geschehen, der Zuschauer durfte nie im Zweifel gelassen werden, was gemeint war.
Ich hatte keine Schwierigkeit, meinen Text auf diese Weise pantomimisch zu begleiten. Nach der zehntägigen Probenzeit gab es nicht einmal ein Gespräch, es wurde einfach weiterprobiert. Die Darstellung der Emely war ein großes Glück für mich, denn sie bereitete mir den Boden für den Erfolg mit weiteren schönen Rollen in diesem Kollektiv von April 1946 bis zum Ende der Spielzeit 1948/49.

Um wieder beruflich tätig sein zu dürfen, mußte nicht nur ich erst einen Fragebogen ausfüllen, in dem ich 131 Fragen wahrheitsgemäß beantwortete. Anschließend erhielt ich von der Militärregierung Deutschland „for the U.S. Zone of Occupation“ die Urkunde der Registrierung unter meinem bürgerlichen Namen Rosemarie Krüger, als Schauspielerin Rosemarie Kilian.

Mit dem Stück „Unsere kleine Stadt“ gastierten wir in Konstanz. Die erste Aufführung war eine Nachmittagsvorstellung. In einer der letzten Szenen steht Emely als tote junge Frau auf der Bühne, um sie herum die Trauergemeinde, alle unter schwarzen Regenschirmen einen Choral singend. Unter Mühen hatten es die Beteiligten auf Anweisung des Regisseurs geschafft, den Choral mit unreinen Tönen zu durchsetzen, was sehr echt wirkte und unweigerlich zum Lachen reizte. Doch das Publikum lachte auf Grund der sonst sehr traurigen Situation nicht. Im Zuschauerraum entstand eine Unruhe, die wir uns nicht erklären konnten.
Aber was geschah in der Abendvorstellung, als wir die betreffende Stelle im Stück erreichten?
Ein Schrei der Empörung, dann brach im Publikum ein solcher Tumult aus, wie ich ihn später nie wieder erlebte. Ich stand in meinem langen weißen Kleid, den Scheinwerfer auf mich gerichtet, ganz vorn an der Rampe. Faule Äpfel und Kartoffeln flogen an mir vorbei auf die Bühne, streiften mich aber nur. Die Zuschauer waren zerstritten.
"Unerhört! – Unverschämt! – Aufhören!“ schrien die einen, während andere riefen: „Habt doch Achtung vor den Schauspielern! – Seid ihr verrückt? Laßt sie doch zu Ende spielen!“ Ich hatte als Nächste einen längeren Satz zu sprechen. Nachdem sich meine Verblüffung gelegt hatte, war ich die Ruhe in Person. Ich wartete, bis eine solche Stille eingetreten war, bei der man bekanntlich eine Stecknadel zu Boden fallen hört. Wir hatten die Vorstellung quasi angehalten. Am Schluß bekamen wir tosenden Beifall und nur noch ein paar vereinzelte Buh-Rufe. Der Schriftsteller und Kritiker Thaddäus Troll, der uns nach Konstanz begleitet hatte, machte sich über die frömmelnden Katholiken lustig, die zwischen Nachmittags- und Abendvorstellung den Aufstand organisiert hatten. Sie hatten wohl das Singen des Chorals in dieser Form als Provokation ihres Glaubens empfunden.

Obwohl stark zerstört, war Stuttgart für viele Künstler ein Anziehungspunkt. Die Aufbruchsstimmung nach dem 8. Mai 1945 kann man heute kaum beschreiben. Daß ich wieder Theater spielen durfte, empfand ich als besonders befreiend. Wenn ich meine Tagebücher jener Jahre lese, so ist mir kaum mehr vorstellbar, was wir damals alles in einen einzigen Tag hineingepackt haben. Rückblickend fühle ich mich wie in einem Taumel von Proben, Vorstellungen und Geselligkeit.

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