Bild: zeitgut Bild
Die Geschichte "Verbotenes Tun" steht in dem Buch
Unsere Heimat - unsere Geschichten
Rückblenden 1921 - 1980

zum Shop »

 

Der Frühling kann kommen

(aber auf keinen Fall annährend so, wie in folgender Geschichte)
Bildquelle: Günther Becker
Günther Becker 1944 mit Mutter, Vater, Schwester und Dackel "Seppel" in Wunstorf.

Hasenjagd
Geschichte von Günther Becker

Das Jahr 1944 begann sehr ereignis- und abwechslungsreich. Im März wurde ich Pimpf, und seit April ging ich zur Scharnhorst-Schule in Wunstorf (Region Hannover). Ich hatte genau wie meine Schwester Trauti geschafft, worum wir immer gebetet hatten: auf eine weiterführende Schule, die Mittelschule, zu kommen.
Den roten Backsteinbau unserer Schule, um die Jahrhundertwende erbaut, erreichten wir von unserer Siedlung aus entweder zu Fuß nach einem 3-Kilometer-Marsch über die Schienen der Steinhuder Meerbahn oder bei schlechter Witterung und in der Winterzeit direkt mit der Bimmelbahn. Jetzt war es endlich wieder Sommer, und mein Mitschüler Hinnerk und ich trabten an jenem Morgen, von dem ich erzählen will, auf Schusters Rappen durch die kleine Straße „Im Sandfelde“. Der klare Himmel versprach einen herrlichen Sommertag. Im Morgentau führte unser Weg durch duftende Kornfelder. Rechts öffnete sich über saftige Auenwiesen hin der Blick zur Silhouette von Stifts- und Stadtkirche, die von hohen, alten Bäumen umgeben waren. Wir überquerten wie gewohnt den Schienenverlauf und die Brücke der Steinhuder Meerbahn und balancierten über die Schwellen, nachdem wir das Durchgangsverbot für Fußgänger wie immer mißachtet hatten. Anfangs war das Laufen über das unter uns fließende Wasser beängstigend gewesen. Wir Kinder hatten uns aber längst daran gewöhnt. „Das mache ich im Schlaf“, entgegnete ich auf die besorgten Ermahnungen meiner Mutter. Und tatsächlich trug ich selbst ein Fahrrad hinüber, wenn es erforderlich war.
In dem Streckenbereich waren für die Schmalspurbahn und den Reichsbahn-Güterverkehr zum Kalischacht nach Bokeloh drei Schienenstränge verlegt worden. Wer große Angst hatte, wählte gern den Weg zwischen den eng zusammenliegenden Schienensträngen. Aber Hinnerk und ich fühlten uns sehr sicher auf der „Schwellenbrücke“, auch weil wir von hier aus schon unzählige Kopfsprünge ins Wasser gewagt hatten. Wir entkleideten uns bei sommerlicher Witterung regelmäßig nach der Schule am Fuße der Brücke und schwammen in den glasklaren Fluten.

Weit draußen tobte zur gleichen Zeit irgendwo der Krieg, der uns in jenen Tagen lediglich durch Fliegeralarm erreichte. Die früher gewohnten Luftkämpfe der deutschen Abfangjäger waren nicht mehr zu beobachten. Man munkelte, den Deutschen sei der Treibstoff für die Maschinen ausgegangen.
An diesem sonnigen Morgen dachten wir zwei nicht an den Krieg. Wie Jungen zu allen Zeiten, hatten wir unsere Spiele und Mutproben im Sinn, den „Seemannsköpper“ von der Brücke und das Schwimmen nach dem Schulunterricht. Um die Spannung bei den Kopfsprüngen zu erhöhen, warteten wir häufig nebeneinander mit dem Absprung, bis der Zug bereits einen warnenden Pfeif- oder Hupton ausgestoßen hatte. Erst danach hechteten wir mit dem Kopf voran in das kühle Naß.
Es gewann jeweils derjenige, der die stärksten Nerven gezeigt hatte. Doch erst einmal war die Schule dran, das erfrischende Bad danach aber bereits beschlossene Sache.
Schon nach der zweiten oder dritten Unterrichtsstunde meldete sich der Krieg mit Vollalarmgeheul. Ausgeschlossen, das zu ignorieren, denn die Scharnhorst-Schule befand sich in Bahnhofsnähe, und so war höchste Vorsicht geboten. Als Eisenbahnknotenpunkt war Wunstorf potentielles Angriffsziel für die Bomber, um Nachschubwege zu zerstören. Alles rannte in die Luftschutzräume, die sich in den Gewölbegängen im Kellergeschoß befanden und teilweise mit Ledermatten, Kästen und „Pferden“,  also Sportgeräten, ausgestattet waren. Sie boten uns ausreichende Sitzgelegenheiten.
Herr Bodenstein, unser beliebter, freundlicher Erdkundelehrer, war wegen einer Verletzung, die er als Navigator in einem deutschen Bomber erlitten hatte, vorübergehend vom Kriegsdienst befreit. Er erzählte uns bei Alarm im Keller von Luftkämpfen und Kriegshandlungen, die uns natürlich brennend interessierten. Wir Jungen kannten die deutschen und gegnerischen Flugzeugtypen genau. Diesmal hielt Herr Bodenstein mit seinen Geschichten zurück und vertrieb uns die Zeit mit lustigen Tricks wie dem Knoten einer Maus aus seinem weißen Taschentuch, die er dann über seinen linken Unterarm huschen ließ. Alle lachten und amüsierten sich, bis endlich das langanhaltende Signal der Entwarnung ertönte. Der Hausmeister, der zu Alarmzeiten jeweils die Meldungen über Flugrouten der feindlichen Bomberverbände aus dem Volksempfänger erfuhr, dämpfte allerdings unseren anfänglichen Jubel. Noch sei die Gefahr für heute nicht vorüber, mit weiterem Alarm sei zu rechnen. Die verantwortlichen Lehrer verkündeten: „Die Fahrschüler müssen noch hierbleiben. Die Wunstorfer begeben sich auf dem schnellsten Wege nach Hause!“
Hinnerk und ich frohlockten, denn so ließ sich eine längere Badezeit an der Aue herausschinden, ohne daheim als überfällig registriert zu werden. Den Schulranzen auf den Rücken geschnallt und ab ging die Post!
Der Weg zurück führte über die Verschiebegleise mit dem Gewirr von Schienen in der Nähe des Bahnhofs. Dieser Gefahrenbereich wurde häufig vom Bahnpersonal kontrolliert. Ungehindert kamen wir durch. Fröhlich hopsten wir von einer Bahnschwelle zur anderen. Nun mußten wir noch die Hochwasserbrücke überqueren. Rechts davon sahen wir die riesige hohe Kopfweide und das Dickicht von Weidengestrüpp, hinter dem sich ein kleiner Tümpel mit allerlei jagdbarem Getier wie Molchen, Fröschen und Eidechsen verbarg, die sogenannte Teufelskuhle. Danach waren es nur noch wenige Schritte bis zu unserer Badestelle.

Dann ging alles sehr schnell: Urplötzlich stieß von links oben, scheinbar direkt aus der Sonne, eine „Curtiss-Warhawk“ auf uns herab. Mit ihrem hohen Motorenton hatte sie sich verraten. „Hinnerk, runter, hinschmeißen!“, konnte ich gerade noch schreien, während ich bereits auf die rechte Bahndammseite hechtete. In meiner Erinnerung ist der knallrote Propellerkopf gespeichert, als wäre es gestern gewesen.
Die Hasen- oder besser Kinderjagd hatte aber damit erst begonnen. Noch bevor wir im hohen Böschungsgras lagen, warfen die sechs schweren Flugzeug-MG (Kaliber 12,7 Millimeter) ihre todbringenden Geschosse auf uns fliehende Jungen herab. Der 12-Zylinder-V-Motor dröhnte, sekundenweise dumpf begleitet von dem hämmernden „Tack, Tack, Tack!“ der Bordkanonen. Mit ihrem tiefen Gebrüll hüllten sie uns in ein donnerndes Inferno, das unseren Herzschlag zu stoppen drohte. Die nackte Angst preßte meinen Körper in das Grün, meine Fäuste krallten sich haltsuchend in die Grashalme. Das Abschwellen des Donners erlaubte ein kurzes Wenden des Kopfes nach hinten. Eine graue Rauchfahne hinter sich herziehend, entfernte sich der Jäger und stieg in nördlicher Richtung an, um deutlich sichtbar in einer Schleife zu wenden und sein Ziel – uns – erneut anzugreifen.
„Andere Seite!“, schrie einer von uns, und wir sprangen gleichzeitig über den Bahnkörper, die andere Böschung hinunter. Das Dröhnen des Motors und das Hämmern der Bordwaffen des in den USA gebauten Jägers schienen uns ein zweites Mal verschlingen, zerschmettern zu wollen. Deutlich hörten wir auf den Bahnschienen über uns harte Einschläge. Zertrümmerte Schottersteine spritzten auseinander und flogen durch die Luft. Dann wieder dumpf abschwellender Motorlärm. Diesmal wendete er nicht – und der Spuk war zu Ende! Unsere Körper flogen vor Angst, die Beine versagten ihren Dienst. Mühsam krochen wir die Böschung hoch. Endlich oben angelangt, starrten wir, immer noch ängstlich zitternd, zum Himmel. Noch immer ließen uns Macht und Stärke unseres inzwischen verstummten Angreifers erschauern. Die drei Schienenstränge wiesen nun an mehreren Stellen Löcher auf, die wie gezackte Stahlkrater aussahen. Deutlich konnte man daraus schließen, aus welcher Richtung sie beschossen worden waren. Welch ein verhängnisvolles Ende hätte sie nehmen können, die „Hasenjagd“ in der vermeintlichen Idylle!
Hinnerk und ich badeten nicht mehr an diesem Tage. Wir gingen ohne große Unterhaltung nach Hause, waren ganz still. Erst daheim bei meiner Mutter brach es aus mir heraus. Ich weinte – und dabei war ich doch gerade Pimpf, ein „tapferer Hitlerjunge“, geworden. Nie mehr in meinem Leben habe ich größere Angst gehabt!

aus "Unsere Heimat - unsere Geschichten" , Reihe Zeitgut Band 30
zum Shop »

Buchtipps

zur Übersicht Reihe Zeitgut
Buchcover Reihe Zeitgut Band 31
Im Konsum gibts Bananen
Alltagsgeschichten aus der DDR
1946–1989
Mehr erfahren »
Unsere Heimat - unsere Geschichten Band 30. Unsere Heimat - unsere Geschichten. Wenn Erinnerungen lebendig werden. Rückblenden 1921 bis 1980
Mehr erfahren »
Als wir Räuber und Gendarm spielten Band 29. Als wir Räuber und Gendarm spielten. Erinnerungen von Kindern an ihre Spiele. 1930-1968
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Trümmerkinder" Band 28. Trümmerkinder
Erinnerungen 1945-1952
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Kriegskinder erzählen" Band 27. Kriegskinder erzählen
Erinnerungen 1939-1945 
Mehr erfahren »
zum Shop
Klick zum Buch "Späte Früchte" Florentine Naylor
Späte Früchte für die Seele
Gedanken, die das Alter erquicken
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Momente des Erinnerns" Momente des Erinnerns
Band 3. VorLesebücher für die Altenpflege
Mehr erfahren »

Navigationsübersicht / Sitemap

zum Shop  |   Bestellen  |   Gewinnen  |   Termine  |   Leserstimmen  |   Wir über uns  |   Lesecke
Modernes Antiquariat  |   Flyer  |   Plakate  |   Schuber  |   Lesezeichen  |   Postkarten  |   Aufsteller  |   Videoclip  |   Dekohilfe  |   Anzeigen

Themen