Geborgen bei Oma und Opa Geborgen bei Oma und Opa
Zeitzeugen erinnern sich an ihre Großeltern. Teil 2

192 Seiten mit vielen Abbildungen,
Zeitgut Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86614-224-4,
gebunden, Euro 9,95

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Wer braucht schon hundert und hundert Eier?

Foto Ingrid Hantke

Geschichte von Monika Schober
aus "Geborgen bei Oma und Opa"

Brandholz, bei Goldkronach, im Fichtelgebirge, Ostern 1944

Wenn ich heute in den Geschäften das Überangebot an Waren zu den jeweiligen Festen sehe, erinnere ich mich mit leiser Wehmut meiner eigenen Kriegskindheit: Schokoladeneier, mit oder ohne Füllung, kannte ein Kind 1944 überhaupt nicht. Als höchstes Glück gal­ten ein paar gekochte Eier, vom O­sterhasen bemalt und versteckt. Meine Mutter und ich, fünf Jahre alt, waren 1943 als Ausgebombte der Stadt Leipzig in einem kleinen Dorf im Fichtelgebirge untergekommen. Auch meine Großmutter Marie und ihre jüngere Tochter Eva hatten sich vor dem Bombenhagel hier auf dem Land in Sicherheit gebracht. Mein Großvater mußte jedoch weiter in Leipzig arbeiten, um die „Familienbrötchen“ zu verdienen.
Anfangs wohnten wir alle in einem Bauernhaus auf dem Berg, ein Jahr später wurden uns im Gasthaus „Zur Mühle“ zwei einfache Zimmer angewiesen. Das Gasthaus gehörte dem Bürger­meister, der mit großem Rinderbestand, Federvieh, Obstgärten, Wäldern und Feldern ein sehr wohlhabender Mann war. Dennoch war er einer der gütigsten und freundlichsten Menschen im Ort. Nur seine jüngste Tochter Annemarie war ein durchtriebenes kleines Ding. Sie triezte mich, wo sie nur konnte: „Der Osterhase, legt mir jeden Tag ein herr­liches Osterei in mein Nest. Aber dir bringt er gar nix, weil du nämlich keine Einheimische bist, nur eine Fremde!“
Kinder können bekanntlich grausam sein und ich, ohnehin ein Sensibelchen, bekam wieder einmal  alle Vorurteile der Dörfler zu spüren. Annemarie legte noch eins drauf: „Zu Ostern bekomme ich sowieso hundert und hundert bunte Eier und ein neues Kleid krieg ich auch noch vom Osterhasen!“
Ich stürmte zu dem Grashügel hinauf, meinem Lieblingsplatz. Bei zwei kleinen Fichten formte ich aus Moos mein Osternest und wartete ... Vergeblich pilgerte ich Tag für Tag dorthin. Es blieb leer. Welch himmelschreiende Ungerechtigkeit! Weshalb vergaß der Osterhase gerade mich?
Die Annemarie hatte doch alles, und ich besaß gar nichts mehr. All meine schönen Spielsachen waren mit unserem Haus im Bombenhagel vernichtet worden – die Puppen, die Bilderbücher und auch mein geliebter Holzroller. Alles war verbrannt. Ich tat mir selbst unendlich leid. Als Häufchen Elend saß ich am Familientisch. „Was ist mit dir los, Moni, hat dich jemand geärgert?“ forschte meine Großmutter. Da brach es aus mir unter Schluchzen heraus: „Die Annemarie sagt, Ausgebombten bringt der Osterhase nix. Und mein Nest ist auch immer leer.“
„Na, vielleicht bringt dir der Osterhase doch noch was Schönes.“ Die Großmutter strich mir tröstend übers Haar. „Ich glaube, du gehst erst einmal ins Bett!“ Dann fiel ihr noch etwas an mir auf: „Du humpelst ja!“
„Meine Schuhe drücken so“, jammerte ich.
„Aha, zu kleine Schuhe“, nickte sie. „Wer weiß, wann es wieder Schuhe auf Bezugsschein gibt“, kam mit einem tiefen Seufzer hinterher.

Meine Großmutter Marie galt als der „Fels in der Brandung“. Sie steuerte unser Lebensschiff mit fester Hand und gesundem Menschenverstand durch diesen elenden Krieg mit all seinen Sorgen und Mängeln. Großmutter war eine Kämpfernatur. Sie wuchs, wie so viele Frauen in dieser Zeit, die ohne ihre Männer leben mußten, über sich selbst hinaus. Ständig war sie unterwegs in Sachen Nahrungsmittelbeschaffung, auch Hamstern genannt. Auf langen Märschen zu diversen Bauernhöfen gelang es ihr, unsere geretteten Wertgegenstände in Nahrhaftes umzu­tauschen. So wurden unsere kärglichen Lebensmittelzuteilungen durch ein paar Eier, etwas Butter oder ein Stück Speck aufgewertet. Großmutter war auch, während der Krieg noch tobte, einmal nach Leipzig gefahren, um ihren Mann, meinen Großvater, zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit nahm sie das letzte Tafelsilber und Bettwäsche zum Eintauschen mit – begehrte Dinge, die die Aussteuertruhen der Bauerntöchter vervollständigten. Leider war der Zug auf seiner Fahrt nach Bayern von Tieffliegern be­schossen worden, und ausgerechnet der Koffer mit wertvoller Bettwäsche war verlorengegangen. Großmutter war froh, heil davongekommen zu sein. Aber das war nun auch schon eine Weile her. Unterdessen waren auch unsere letzten Wertgegenstände aufgebraucht.
Und nun stand Ostern vor der Tür und ich war ganz verzagt, weil mir offenbar der Hase so gar nichts bringen wollte. Viele Jahre später erfuhr ich, wie der Abend weiter verlief. Als ich zu Bett gegangen war, entspann sich folgendes Gespräch:
Das Kind braucht dringend etwas Neues, Schuhe und ein Kleid“, so meine Mutter.
„Und das Kind soll seine Ostereier bekommen“, ergänzte Großmutter.
„Aber zu Ostern brauchen die Bauern die Eier für ihre eigenen Kinder.“
„Haben wir eigentlich noch Schmuck zu versetzen?“
Die Hand meiner Mutter glitt erschrocken zu dem Medaillon an ihrem Hals. „Das nicht“, flüsterte sie erschrocken. „Das geb ich nicht her!“ Die Goldkette war das Verlobungsgeschenk von meinem Vater, der im Feld stand.
Großmutter holte nun seufzend die fast geleerte Schmuckkassette. „Der Amethyst ist mein Verlobungsgeschenk“,  sagte sie, „nun ist er wohl auch noch dran. Mein Wilhelm möge mir verzeihen! Die Götz-Bäuerin ist schon lange scharf darauf. Die hat ein richtiges Warenlager.“ Der Amethyst war Großmutters Heiligtum, ein riesiger Edelstein, fassettenreich geschliffen, er hing an einer schweren Goldkette. Großmutter trug das Schmuckstück nur an hohen Feiertagen.
Am nächsten Tag war Großmutter lange unterwegs. Ihr Kommentar danach: „Das Osterfest ist gesichert!“

Frühzeitig stahl ich mich am Ostermorgen aus der Wohnung, Ich rannte zu meinem Osternest: Hurra, der Osterhase hatte mir acht schöne, braunglänzende Ostereier gebracht!
Glücklich sammelte ich sie in meine Schürze und stürmte nach Hause. Im großen Obstgarten hörte ich die Mühl-Buben und Annemarie lärmen und johlen. Das juckte mich nicht – sollten sie doch ihre hundert und hundert Eier finden, ich hatte auch welche. Ich war reich!
Daheim erwartete mich die zweite Überraschung: Der Familien­tisch war mit der bestickten Osterdecke von früher festlich gedeckt. Darauf prangte ein duftender Hefekranz mit vielen Rosinen. Ich legte meine braunen Ostereier behutsam hinein. Der Raum war erfüllt von feinem Kaffeeduft. Ich bekam natürlich Milch. Aber auf meinem Teller saß ein richtiger Marzipan-Osterhase. „Den hat der Osterhase bei Großvater Wil­­helm für dich abgegeben. Sie mal, da ist noch etwas für dich!“ An der abgeschabten Küchenschranktür hing säuberlich auf einem Bügel ein wunderhübsches Bleyle-Strickkleid, am Halsausschnitt mit roten Bommeln bestickt. Ich jubelte und probierte es gleich an.
„Das ist von Großvater Paul“, erklärte meine Mutter.
Das Prachtstück paßte wie angegossen. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Mein anderer Großvater galt als reich, denn er besaß in der Leipziger  „Mädler-Passage“ ein gut­gehendes Antiquitäten-Geschäft.
Unter der Kommode hatte der Osterhase noch ein paar braune Halbschuhe für mich versteckt. All diese Herrlichkeiten mußte ich sofort Annemarie vorführen, die in einem dünnen rosa Organza-Kleid umherstolzierte.
„Du wirst dir einen Schnupfen holen“, warnte ich sie, nicht ohne etwas Schadenfreude. Mein herrliches Wollkleid war wohlig warm.
„Aber meine hundert und hundert Eier, ätsch, die hast du nicht“, zog Annemarie ihr letztes As aus dem Ärmel.
Betont gründlich sah ich mich um. Überall im Grase lagen zertretene bunte Eier. Was für eine Verschwendung!
„Na, das waren wohl viel zu viele“, sagte ich ganz überlegen und hopste davon. Oh, was war das doch für ein schönes Osterfest! Danke, lieber Osterhase!
Und heute füge ich hinzu: Danke, liebe Großväter. Vor allem aber: Danke liebe Großmutter Marie, Dein Opfer war nicht umsonst und hat in schlimmer Zeit große Freude gebracht.

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