Die Geschichte "Tante Lene und die Eisenbahn" steht in dem Buch
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Tante Lene und die Eisenbahn
Bildausschnitt Buchcover "Unsere Heimat - unsere Geschichten" mit Foto von Werner Wiegard aus dem Jahr 1960.
Geschichte von Liesel Hünichen
Dülmen bei Münster 1930
Tante Lene und die Eisenbahn
Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir früher mit der Eisenbahn verreisten. In der ersten und zweiten Klasse gab es Polstersitze. In der dritten waren die Bänke aus Holz, darüber hingen aus starken Stricken geknüpfte Netze zur Aufbewahrung der Koffer. Die Abteile der vierten Klasse waren doppelt so breit wie die der dritten. Sie hatten rechts und links Sitzbänke und in der Mitte viel Raum für Koffer, Wagen, Kästen und Kisten, in denen Hühner gackerten oder Obst duftete, und für Kartoffel- und Rucksäcke. Auch Hunde wurden hier befördert. Auf jeder Dorfstation zwischen Münster und Dülmen stiegen an den Wagen der vierten Klasse besonders viele Leute aus und ein.
Dieses Ein- und Aussteigen war damals noch längst nicht so bequem wie heute. Alle Waggons hatten außen eine oder zwei schmale Treppenstufen, auf denen man am Waggon hochsteigen mußte. Während der Fahrt von einem Wagen in den anderen zu gelangen, war unmöglich, denn ein jeder war sozusagen ein Einzelstück, mit dem davor und dahinter aneinandergekoppelt und durch die Puffer vor allzu hartem Anprall geschützt.
Dennoch weiß ich noch gut, wie sich manchmal während der Fahrt die Außentür öffnete und der Schaffner zustieg, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Er war außen auf der Treppe von Coupé zu Coupé – die französische Bezeichnung für Abteil war damals noch allgemein üblich – geturnt. Wie gering die Geschwindigkeit gewesen sein muß, wenn so etwas möglich war!
Mit den Tagen der alten Eisenbahnen verbinde ich eine besondere Erinnerung. Wir besuchten eines Tages nicht nur die Großeltern auf der Nordstraße, sondern auch Vatis Eltern auf der Hittorfstraße. Dort war Vatis Schwester, meine Tante Lene, zu Besuch. Sie war Lehrerin in Werne und wollte noch am gleichen Tag zurückfahren. Mit ihr meine Oma, die ein paar Tage bei ihrer Tochter in Werne verbringen wollte. Als die Zeit des Aufbruchs heran war, begleitete Vati Schwester und Mutter zum Bahnhof; ich, damals elf Jahre alt, ging ebenfalls mit.
Ausgerechnet an diesem Tag war die Straßenbahn nicht pünktlich; wir kamen mit ziemlicher Verspätung am Bahnhof an. Mit den Worten: „Ich laufe schon mal vor und reserviere Plätze für uns beide, sonst fährt der Zug ohne uns ab", stieg Tante Lene hastig aus und eilte davon.
Nach einem Blick auf die Uhr glaubte ich nicht, daß wir ihn noch rechtzeitig erreichen würden. Doch da kannte ich meine Tante Lene schlecht!
Als Vater seine leichtbehinderte Mutter samt Koffer endlich die zwei Treppen bis auf den Perron – so nannte man damals den Bahnsteig – hochgeschleppt hatte, bot sich uns eine unvergeßliche Szene: Seine Schwester Lene hatte sich vor dem offenen Coupé des Zuges aufgepflanzt, einen Fuß auf der Einstiegstreppe, den anderen auf dem Bahnsteig. Vor ihr tobte ein fuchsteufelswilder Bahnhofsvorsteher mit der Abfahrtskelle in der Hand, der sie schreiend aufforderte: „Rauf oder runter, sag ich! Dalli!" Es war ganz augenscheinlich, daß er dies nicht zum ersten Male tat.
Tante Lene, die einzige in unserer Familie mit Übergewicht, stand behäbig, stur und unbeweglich, bis sie ihre herankeuchende Mutter entdeckte und freudig ausrief: „Da isse ja! Nun können wir fahren!" –
Worauf mein Vater seine Mutter die Stufen zum Coupé hochschob und Tante Lene den Koffer in Empfang nahm. Jetzt endlich konnte der Mann mit der roten Mütze seine Kelle heben und der Zug abfahren.
Tante Lenes streitbares Einschreiten für einen glücklichen Beginn der Reise mit ihrer Mutter hat mir damals so imponiert, daß ich es auch nach 85 Jahren nicht vergessen habe!
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