Leseproben aus den Büchern:
Bild Zwischen Kaiser und Hitler
Kindheit in Deutschland
1914-1933
Reihe Zeitgut Band 15
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Buchtitel Unvergessene Weihnachten
Band 6
Erinnerungen aus guten und aus schlechten Zeiten

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Buchtitel Im Konsum gibt's Bananen
Alltagsgeschichten aus der DDR
Reihe Zeitgut Band 31
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Bildquelle: Walter Moshammer
1923 oder 1924: Familie Wagener in Cottbus hört die Übertragung des „Parzival" aus Bayreuth. Die Mutter liest aus dem Textheft vor. Die ersten Radiogeräte besaßen meist noch keine Lautsprecher. Deshalb haben alle Familienmitglieder Kopfhörer auf. Da es im Haus noch keinen Stromanschluß gab, standen unter dem Radio die Anode und in einem Holzkasten am Fußboden der Akku. Nachdem sich während der Sendung immer mehr Hausbewohner eingefunden hatten und die Kopfhörer nicht mehr ausreichten, wurden diese kurzerhand in die metallene Backschüssel gelegt, die den Ton verstärkte und für alle hörbar machte.
Foto: privat / Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main F 040504-005

Hören und staunen

von Walter H. Moshammer  //  Berlin-Wedding 1923-1926

Seit 1923 konnte man in Berlin Radio hören*). Irgendwann hatte Onkel Felix einen Kristall-Detektorempfänger und ein Paar Kopfhörer mitgebracht. Die Kopfhörer benutzten wir am Anfang so, daß abwechselnd jeder einmal einen der beiden Hörer für ein paar Minuten ans Ohr halten durfte und so in den Genuß kam, die von ferne herkommenden Töne und Geräusche zu hören.

Um überhaupt etwas von den Radiosendungen empfangen zu können, hatte Onkel Felix direkt unter der Küchendecke und an den Wänden entlang eine Antenne aus Bronzelitze gezogen. Von der Antenne ging ein Draht zum Detektorempfänger und von diesem führte ein Kupferdraht zur Wasserleitung. Das war die Erdung. Sie erhöhte und verbesserte die Empfangsleistung und diente gleichzeitig als Blitzschutz. Jeden Abend hörten wir am Schluß des Abendprogrammes vom Ansager die freundliche Aufforderung: „Vergessen Sie bitte nicht, die Antenne zu erden!"

Die damaligen Empfänger mit Kristalldetektoren benötigten für ihren Betrieb keinen elektrischen Strom vom Elektrizitätsnetz. Sie funktionierten allein durch die vom Rundfunksender abgestrahlte Energie. Findige Leute, die in der Nähe des Rundfunksenders wohnten, hatten bald herausgefunden, daß man diese für die eigene kostenlose Beleuchtung nutzen konnte. Aber man kam ihnen schnell auf die Schliche.

Für den Begriff Radio bürgerte sich im Laufe der Zeit die Bezeichnung Rundfunk ein. Für mich und meine Allgemeinbildung in Kindheit und Jugend hatte der Rundfunk eine große Bedeutung. Als 14jähriger habe ich manchmal mit einem Textbuch in der Hand im Bett gelegen und Opern gehört, so zum Beispiel Otto Nicolais komische Oper „Die lustigen Weiber von Windsor". Damals gab der Opernsänger Cornelius Bronsgeest Rundfunktextbücher heraus, mit denen man Operntexte gut verfolgen konnte.

Manche Sendungen wurden bald populär, so die Couplets von Otto Reuter, vor allem seine immer wieder gern gehörten: „ Gehste weg von dem Fleck, ist der Überzieher weg!" und „Ick wundre mir über jarnischt mehr ..."

Ebenso erfolgreich war Ludwig Manfred Lommel mit seinen Sketchen „Sender Runxendorf". Lommel besaß die Fähigkeit, ohne Partner Dialoge in verschiedenen Stimmen und Stimmlagen vorzutragen. Wir hörten auch gern Willi Weiß’ wehmütiges Lied: „Die alten Straßen sind’s, die alten Häuser sind’s, die alten Freunde aber sind nicht mehr ..."

Die Zwanziger Jahre brachten uns neben dem Radio viele andere technische Neuerungen und Verbesserungen. Anstelle der düsteren Petroleumfunzel – ich mußte das Petroleum immer von der alten Gemüsefrau aus dem Gemüsekeller in unserem Hause holen – verfügten wir bald über eine Gasbeleuchtung mit hell strahlenden Glühstrümpfen. Dabei blieb es nicht. Nachdem die Glühbirne industriell produziert wurde, ist das Gaslicht durch das elektrische Licht ersetzt worden. Doch weil der Hauswirt noch kein elektrisches Licht in die Toiletten legen ließ, mußten wir bei unserem Gang zur Toilette im Treppenhaus noch immer unsere selbstgebastelte Petroleum-Notleuchte mitnehmen. Sie bestand aus einem Tintenfaß, das mit Petroleum gefüllt wurde, und einem Wolldocht. In unserer Wohnung aber und auch im Treppenhaus konnten wir jetzt per Knopfdruck helles Licht erleuchten lassen, welch ein Wunder!

Den Gasherd, der den Kohleherd ersetzt hatte, behielten wir allerdings auch nach dem Verlegen der Stromleitungen bei und ersetzten ihn nicht durch elektrische Kochplatten. Mein Leben spielte sich hauptsächlich in der Küche ab, und so wurde ich Nutznießer all dieser Neuerungen, die die Hausarbeit vereinfachten. Da ich fast den ganzen Tag allein in der Wohnung bzw. in der Küche zubrachte, mußte ich die Geräte oft selbst bedienen. Meine Mutter war eine Kriegerwitwe des Ersten Weltkrieges und arbeitete, um uns zu ernähren, als Zinkbecherlöterin 48 Stunden in der Woche in einer Fabrik. Dadurch war sie sehr belastet.

Technische Verbesserungen gab es in diesen Jahren nicht nur in den Haushalten. Auch das alltägliche Leben veränderte sich. Früher war jeden Abend der Laternenanzünder durch unsere Straße gegangen, um die mit Leuchtgas betriebenen Straßenlaternen anzuzünden. Er trug zu diesem Zweck eine lange Stange, an deren Ende sich ein Haken befand, mit dem er den Gashebel der Laternen betätigen konnte. Jetzt, nachdem die Stadtbeleuchtung auf Elektrizität umgestellt war, wurden die Laternen vom Elektrizitätswerk zentral durch wenige Handgriffe ein- und ausgeschaltet.

Bei der Eisenbahn tat sich manches. So wurde die 4. Klasse abgeschafft: einfache Waggons, an den beiden Längsseiten mit je einer harten Sitzbank ausgestattet und vor allem für die Mitnahme von schwerem Gepäck und Lasten gedacht. Sie hatten sich besonders bei den Hamsterfahrten während des Krieges und in der Nachkriegszeit bewährt. Die Stadt selbst veränderte fortwährend ihr Aussehen, besonders durch den Zusammenschluß von Außenbezirken und die Schaffung von Parkanlagen und Wohnsiedlungen in den Arbeitergegenden. In Berlin waren die Zwanziger Jahre voller Aktivität – im guten wie im weniger guten Sinne.

*) Der erste offizielle deutsche Rundfunksender „Funkstunde" nahm am 29. Oktober 1923, um 20 Uhr, den Betrieb auf. Er war im VOX-Haus in der Potsdamer Str. 4 in Berlin beheimatet. Er sendete mit einer 30 m langen Antenne auf Frequenz 750 Khz (400 m).

Aus dem Buch "Zwischen Kaiser und Hitler"

Wo steckt der Mann im Radio?

von Anneliese Albrecht // Herzogenrath bei Aachen; 1931

Auf dem Heimweg von der Schule war ich nie allein. Etliche Mitschülerinnen mußten in dieselbe Richtung gehen. Mein Weg war der kürzeste. Ursel, zum Beispiel, lief weiter bis zu den Glaswerken; die lagen zwischen Herzogenrath und Merkstein. Ihr Vater arbeitete dort. Sie war mitteilsam, und ich hörte ihr gern zu. Einmal erzählte sie mir von dem Radioapparat, den ihre Eltern angeschafft hatten. Sie schwärmte von der Kinderstunde des Westdeutschen Rundfunks. An einem Tag in der Woche gäbe es eine gemeinsame Bastelstunde mit Hörerkindern. Heute um 15 Uhr sei es wieder soweit. Wenn ich Lust hätte, könnte ich doch zu ihr kommen, um die Sendung gemeinsam zu hören.
Mutti war einverstanden. Begeistert machte ich mich nach Erledigung meiner Schulaufgaben auf den Weg. Ursel wartete schon vor dem Fabriktor an der Straße. Sie führte mich über viele Gleise, die zu allen Hallen liefen. Das Werk erschien mir riesengroß. Auf einem Emailleschild las ich: „Bureau“, daneben zeigte eine schwarze Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger auf weißem Grund die Richtung an. Dahinter wohnte Ursel. Ihre Mutter nahm mich freundlich auf. Sie freute sich, daß ich den weiten Weg nicht gescheut hatte.
Gemeinsam warteten wir gespannt auf die Sendung. Lange ertönte das Pausenzeichen. Es entzückte mich ebenso wie die folgende Bastelstunde. Bevor die Anweisungen gegeben wurden, konnten wir bei eingespielter Musik die benötigten Werkzeuge, wie Schere, Lineal, Bleistift, Farben, sowie einige Zeichenblätter herbeiholen. Weil Karnevalszeit war, wurde eine Maske gewerkelt. Wir setzten die Anleitungen aus dem Apparat schrittweise so um, daß wir mit dem Ergebnis hochzufrieden waren.

Ganz erfüllt kam ich heim und sprudelte meine Erfahrungen in allen Einzelheiten heraus. Mutti ließ sich begeistern. Als Papa beim Abendbrot die Neuigkeit erfuhr, meinte er: „So ein Radioapparat wäre doch auch etwas für uns! Ich spiele schon lange mit dem Gedanken. Gehen wir doch mit der Zeit!“
Einige Tage später holte Papa abends ein kleines Tischchen ins „gute Zimmer“ und bat Mutti, doch auf dem roten Sofa Platz zu nehmen.
„Was wollt ihr denn?“ fragte er Klein-Inge und mich, „bleibt lieber in der Küche, denn wir brauchen jetzt absolute Ruhe!“ Das war so ein Schlagwort von ihm.
Die Schwurfinger erhoben, versprachen wir hoch und heilig‚ ganz leise zu sein, und so duldete er schließlich, daß Mutti auch uns aufs Sofa zog.
Bald darauf klingelte es an der Haustür. Herr Mohr, der Meister und Inhaber des Elektrogeschäfts „Elektro-Mohr“ in Herzogenrath, kam herein, grüßte freundlich und setzte einen großen Karton auf unserem Tisch ab. Wir reckten neugierig die Hälse. Inge war kaum zu halten, wurde aber gleich wieder ruhig, als Mutti sie streng ansah.

Der Meister öffnete geschickt die Verpackung und hob ein Gehäuse aus der schützenden Hülle. Wir staunten. Es war aus hellbraunem polierten Holz. Eine Öffnung war mit gewebtem Noppenstoff verkleidet. Der Stecker wurde eingesteckt und der Kasten auf dem Tischchen plaziert. Meister Mohr betätigte die schwarzen Knöpfe und stellte den Zeiger der Skala auf den Sender Köln ein.
Plötzlich erklang herrliche Musik. Dann hörten wir die sonore Stimme eines Nachrichtensprechers. Wir schauten uns an und waren tief beeindruckt.
Herr Mohr verabschiedete sich und wurde von den Eltern zur Tür begleitet. Das nützte Ika, wie sich Inge nannte, aus. Sie war nun nicht mehr zu halten. Sie trippelte nahe an den neuen Apparat heran und inspizierte mit schief gelegtem Köpfchen die Rückseite des Kastens.
„Halt!“ rief ich sie zurück, „was tust du denn da?“
„Ich will den Mann sehen, der da drin spricht!“

Aus dem Buch "Zwischen Kaiser und Hitler" oder "Spuren des Jahrhunderts"

Und doch noch Weihnachtsmusik!

von Lucie Spogat // Neuruppin, Brandenburg; 1956

Es war kurz vor Weihnachten. Meine Kinder Reinhard und Heidi, fünfeinhalb und vier Jahre alt, hielten ihren Mittagsschlaf. Ich ging indessen auf den Boden und spielte Weihnachtsmann. Das heißt, ich gab mir die allergrößte Mühe, das stark demolierte Schaukelpferd, das die Nachbarin uns geschenkt hatte, wieder herzurichten. Das war gar nicht so einfach, denn es fehlten dem Pferd der Schweif, die Mähne und die Ohren. Aber mit ein bißchen Geschick erneuerte ich alles. Zum Schluß nahm ich Farbe und Pinsel und strich das ganze Schaukelpferd weiß an. Es strahlte wieder in alter Schönheit.
Durch eine Annonce in der Zeitung erwarb ich einen Puppenwagen. So wie er aussah, hatte er bestimmt schon seine zwanzig Jahre auf dem Buckel. Aber auch hier wirkte ein neuer Anstrich Wunder. Nun fehlte nur noch die Puppe, die ich ein paar Tage später im Spielwarenladen erstand. Als ich mit den Spielsachen noch einmal liebäugelte, dachte ich: Na, ob sich meine beiden wohl darüber freuen werden?
Meine Kinder hatten schon längst ausgeschlafen und liefen in der Stube umher.
„Nanu“, wunderte ich mich, „ihr seid schon auf?“
Ich schaute auf die Uhr, es war doch schon viel später, als gedacht.
„Wir haben sooo auf dich gewartet, Mutti. Wo warst du denn so lange?“ wollten die Kinder wissen.
„Ich war beim Weihnachtsmann und habe was Schönes für euch bestellt“, sagte ich geheimnisvoll. „So, nun wollen wir das Radio einschalten und uns schöne Weihnachtsmusik anhören.“
Während ich das sagte, drehte ich am Knopf, aber es kam keine Musik. „Nanu, was ist denn da los?“, wunderte ich mich.

Da entdeckte ich zwei Löcher im Lautsprecher meines Radios.
„Wie ist das passiert?“ rief ich vor Schreck.
Meine beiden schauten mich schuldbewußt an.
„Weißt du Mutti, ich habe das Radio angemacht. Da wollte Heidi die kleinen Männer, die da drinnen zu hören waren,  sehen. Mit einem Messer hat sie dann Löcher reingemacht und Watte reingestopft. Mit deiner Häkelnadel wollte ich die Watte wieder rausholen, da war das Radio auf einmal stumm“,  berichtete mir mein Sohn.
Als ich genau hinsah, entdeckte ich auch noch den Draht, der aus einem Loch herausschaute.
„Aber Reinhard, du bist mein Großer, du hättest doch besser auf deine kleine Schwester aufpassen müssen, dann wäre das nicht passiert. Das hat der Weihnachtsmann bestimmt gesehen. Ich glaube nicht, daß er euch in diesem Jahr was bringen wird“, sagte ich ziemlich traurig.
Zu dieser Zeit gab es noch kein Fernsehen. Da war unser Radio das Einzige, was wir zur Unterhaltung hatten. Wir konnten Musik hören!

Noch am selben Tag brachte ich das Radio zur Reparatur. Am Heiligen Abend spielte es wieder. Der Spaß kostete 15 Mark. Das war genau der Betrag, den ich gespart hatte, um mir ein Paar neue Nylonstrümpfe zu kaufen, die zu DDR-Zeiten sehr teuer waren.

In einer Gute-Nacht-Geschichte hatte ich den Kindern erzählt, daß die Tiere Weihnachten verstehen würden, was die Menschen sagen. Mit Eicheln und Kastanien im Korb, die wir im Herbst gesammelt hatten, gingen sie noch vor der Bescherung in den Neuruppiner Tierpark, um die Rehe und Wildschweine zu füttern. Achim, unser Nachbarjunge begleitete sie. Reinhard nahm eine Handvoll Eicheln und reichte sie einem kleinen Rehbock: „Hör mal Reh, wir ham das Radio kaputtgemacht. Was meinste, ob wir trotzdem was zu Weihnachten kriegen?“
Das Böckchen sah ihn mit seinen braunen Augen an und nickte zweimal mit dem gehörnten Kopf.
„Haste gesehen? Er hat Ja gesagt!“
Die Kinder mußten sich sputen, es wurde langsam dunkel.

Zu Hause angekommen, war es mollig warm, und am geschmückten Weihnachtsbaum strahlten die Kerzen. Das sanfte Licht spiegelte sich in den Augen der Kinder wider. Kaum waren wir mit dem Abendbrot fertig, da klopfte es laut an die Tür. Meine Kinder sprangen sehr erschreckt auf. Beide bekamen rote Ohren. Reinhard nahm sein Herz in beide Hände und öffnete die Tür. Mit einem großen Sack auf dem Rücken und einer Rute in der Hand stand vor ihm der Weihnachtsmann. Ich fand, er sah sogar zum Fürchten aus. Seine Larve war nicht mehr die Neueste.
Die Kinder riefen wie aus einem Munde: „Lieber Weihnachtsmann, wir machen nie wieder Muttis Radio kaputt! Das versprechen wir dir, die Hand drauf.“
Sie gaben dem Weihnachtsmann die Hand, um ihr Versprechen zu besiegeln.
„Na“, meinte der, „dann wollen wir das mal glauben. Könnt ihr denn auch beten?“
„Ich kann ein Lied singen“, sprudelte die Kleine heraus. Und schon fing sie mit hoher Stimme an, das Lied vom Kälbchen zu singen.
„Das hast du aber fein gemacht“, lobte sie der Weihnachtsmann und gab ihr den Puppenwagen mit der Puppe.
„Und du Reinhard, was hast du für mich gelernt?“
„Ein .., ein ..., ein Gedicht habe ich gelernt.“
Er war so aufgeregt, ihm war der Hals wie zugeschnürt. Der Junge rasselte sein Gedicht so schnell herunter, daß kein Wort mehr zu verstehen war. Endlich hatte er es hinter sich gebracht. Er atmete erleichtert auf. „Aber Reinhard“, sagte der Weihnachtsmann, „du hast dein Gedicht so schnell und undeutlich aufgesagt, daß ich kein einziges Wort verstanden habe. Nun sprich es noch einmal, aber schön langsam und deutlich.“
Das war zuviel für den kleinen Mann. Noch einmal dieses lange Gedicht aufsagen, nein, niemals, hämmerte es in seinem kleinen Kopf. Helle Tränen schossen ihm in die Augen. In seiner Verzweiflung stieß er hervor: „Du Scheißer, du Doofer ick heb ja schon!“
Dann warf er sich auf sein Bett und schluchzte, daß sein ganzer Körper bebte. Das tat sogar dem Weihnachtsmann leid. Er setzte sich zu ihm aufs Bett und streichelte seinen blonden Haarschopf. Ganz freundlich sprach er: „Da schau doch mal Reinhard, was ich dir mitgebracht habe!“
Und er stellte ein Schaukelpferd vor das Bett. Da hörte der Junge auf zu weinen, schaute um sich und entdeckte sein schönes, neues Spielzeug.
„Ein Schaukelpferd, ein Schaukelpferd!“, jubelte er.
Dann schwang er sich auf sein Roß und machte die ersten Reitversuche.

Endlich ging der Weihnachtsmann wieder. Aus dem Radio erklangen wunderschöne Weihnachtslieder. Fröhliche Weihnacht zog in unsere kleine Stube ein, und aller Kummer war vergessen.

Aus dem Buch "Unvergessene Weihnachten. Band 6

Schuricke singt für Marga

Bildquelle Marga Kleebaum Rudi Schuricke (1913 – 1973), der Schwarm vieler Frauen und Mädchen in Ost und West, gab mir nicht nur ein Autogramm, sondern auch ein Versprechen ...
von Marga Kleebaum // Mühlhausen/Unstrut, Thüringen; 1949

Es war im Nachkriegsjahr 1949 in meiner Heimatstadt Mühlhausen in Thüringen. An den Litfaßsäulen wurde das Auftreten des Schauspielers und Sängers Rudi Schuricke bekanntgegeben. Meine Schulfreundinnen und ich waren Feuer und Flamme. Kein noch so großes Hindernis würde uns aufhalten, unseren Rudi singen zu hören. „Laß die Frau, die dich liebt, niemals weinen“, „Für eine Nacht voller Seligkeit“, „Heimat, deine Sterne“'– wir kannten seine Schlager und trällerten sie vor uns hin. Ein großes Problem war für uns alle die Sorge um unsere Garderobe. Wir wollten doch zu diesem großen Ereignis besonders schön aussehen und gerne auch mal etwas Neues haben. Doch das war schwierig. Es gab Bezugsscheine für Stoffe. Immer wieder nervte ich meine Mutter, für mich einen Kleiderstoff zu kaufen, bis sie schließlich nachgab. Nach der neuesten Mode entstand nun unter ihren geschickten Händen ein wunderschönes blaues Kleid mit Stuartkragen und Schößchen, ein Prachtexemplar. Die passenden Schuhe besaß ich nicht, aber ich war darin geübt, meinen älteren Schwestern die Schuhe zu mopsen. Da sie mir etwas zu groß waren, stopfte ich vorne in die Spitzen etwas Zeitungspapier hinein. So konnte ich, wenn auch mit Schmerzen verbunden, darin laufen. In dieser Staffage ging ich, ging unser ganzer Jahrgang im Trott, sämtliche Lehrlinge der Kreis-Konsum-Genossenschaft eingeschlossen, zu dem großen Ereignis, das im Saal des „Schützenberges“ stattfand. Dort sang unser Idol Rudi Schuricke das Lied von den Capri-Fischern, und wir waren alle wie betäubt von seinem herrlichen Vortrag, unsere jungen Seelen schmolzen dahin.
Mich muß das neue Kleid, sonst trug ich meistens die geänderten Kleider meiner Schwestern auf, größenwahnsinnig gemacht haben. Meine gerade erst 15 Jahre und die gute Erziehung meiner Mutter waren vergessen. Mich zog es am Ende des Abends mit klopfenden Herzen, eine Freundin im Schlepptau, zur Garderobe des Künstlers. Unser zaghaftes Klopfen und die Bitte der öffnenden Dame gegenüber, uns ein Autogramm von Rudi Schuricke zu verschaffen, wurde erhört. Der Sänger hatte mein verzweifeltes Stottern wohl drinnen vernommen. Fröhlich lachend stand er in der Tür, faßte mich um meine Taille, hob mich hoch, schwenkte mich Floh wie ein Kind um sich herum und gab mir einen schallenden Kuß auf meine Wange. Fassungslos ob so viel Männlichkeit – in meiner Familie gab es, bedingt durch den gerade beendeten Krieg, fast keine Männer – starrte ich mein Idol an und muß wohl in meiner grenzenlosen schwärmerischen Verehrung diesen umjubelten Star sehr gerührt haben. Er gab mir ein Autogramm, fragte nach meinem Vornamen und meinem Geburtstag und versprach, an diesem Tag würde er im Radio für mich singen. Es gab damals jeden Morgen, kurz nach 8.00 Uhr, einen musikalischen Gruß an die Geburtstagskinder im Rundfunk.

Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht mehr. Ich schwebte, trotz der schmerzenden Füße, wie auf Wolken, dabei jedoch nicht vergessend, mein Mundwerk kräftig zu bewegen. Schon damals, und das ist bis heute so geblieben, trug ich mein Herz auf der Zunge. Meine Kolleginnen und Freundinnen kannten sicher schon am gleichen Abend diese für mich weltbewegende Story auswendig. Auf jedem Fall wußten am nächsten Tag, meine älteren Kollegen im Büro alle von meinem unerhörten Erlebnis. Sie trieben ihren Spaß mit mir, konnten es gar nicht fassen, daß ich in der nächsten Zeit nicht davon abzubringen war, daß Rudi Schuricke bestimmt an meinem Geburtstag für mich singen würde. Zur 1. Mai-Feier, wurde ich sogar mit einem Spottvers bedacht:

Als Marga den Schuricke hat gesehen,
war es um ihr kleines Herz geschehen.
Voll Sehnsucht denkt sie jetzt zurück
an das, ach so kurze Glück.

Der Schluß der Geschichte ist ein Happyend, eine große Freude für ein junges Mädchen von einem netten Sänger, und einem über den Tod hinaus noch immer verehrtem Idol:
Der 27. Mai, mein Geburtstag, war endlich gekommen. Meine Aufgabe an diesem Tage war das Staubwischen der Schreib- und Rechenmaschinen sowie sämtlicher Büromöbel. Wir mußten damals als Auszubildende unseren Arbeitsplatz im Büro selbst sauber halten, bevor der eigentliche Arbeitstag begann. Meine über mich feixenden Kollegen hatten unseren kleinen Volksempfänger ganz laut eingestellt, damit auch jeder meine zu erwartende Enttäuschung mitbekam. Die Gratulation – mit auf die Wange küssen und mitleidigem Augenzwinkern – war vorüber. Jeder wartete auf die Ansage im Radio, die  Glückwünsche für die Geburtstagskinder. Dann kam endlich die Ansage:

„Wir gratulieren allen Geburtstagskindern. Es singt für Sie Rudi Schuricke, der besonders das kleine blonde Mädchen Marga aus Mühlhausen grüßen läßt.“

Dann ertönte, das für mich unvergessene, Lied:

„Als Troubadour der Liebe so wandere ich durch die Welt
und jeder schönen Frau schenke ich ein Lied.
Als Troubadour der Liebe, dem es überall gefällt
und den es doch immer weiter zieht.
Und wenn mein Herz auch manches Mal die ewige
Treue schwört,
mein Herz hat einer einzigen Frau noch nie allein gehört ...“

Noch heute kommen mir die Tränen, wie damals, als die Hand mit dem zusammengedrückten Staubtuch die Tropfen,  die unaufhörlich aus gläubigen Jungmädchenaugen rollten, vor den neugierigen Augen der anderen verdecken wollten.
Wie schön, daß dieser Traum, dieser Glaube an die Wahrhaftigkeit eines Versprechens nicht enttäuscht wurde! Diese kleinen Freuden in einem Menschenleben bilden das Fundament, um ohne zerbrochenem Rückgrat durch das Leben zu gehen. Denn ohne ein bißchen Glück und Frohsinn, ganz im Kleinen, würde unserer aller Leben sehr, sehr leer sein. 

Aus dem Buch "Im Konsum gibt's Bananen"

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