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Wolfgang Rinnebach
Die Laube

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Rückkehr nach Berlin

Gebrüder Rinnebach
Hartmut, Peter und Wolfgang Rinnebach in Zwickau 1945
aus "Die Laube" von Wolfgang Rinnebach

Eines Tages stand unverhofft mein älterer Bruder Ralf vor der Tür. Nachdem er während des Krieges in Jugoslawien gelebt hatte, war er gegen Kriegsende in einem KLV-Lager in Mallnitz in Kärnten untergebracht. Wegen der zunehmenden Partisanenkämpfe waren die Kinder langsam auf das damalige Reichsgebiet zurückgeholt worden. Bei Kriegsende blieben jedoch sehr viele im fremden Land auf sich allein gestellt und konnten sehen, wie sie zu ihren Angehörigen kamen. Millionen Menschen lebten ja nicht mehr an ihren ursprünglichen Heimatorten, weil sie vertrieben‚ ausgebombt, evakuiert oder bei Flucht und Vertreibung zu Tode gekommen waren. Viele waren unterwegs und wussten nicht einmal wohin. Das Transportwesen lag am Boden, die meisten Fernverkehrsverbindungen waren unterbrochen. Überall herrschte Chaos und große Rechtsunsicherheit. Trotzdem hatte Ralf uns gefunden. Wir waren glücklich. Große Teile des Weges von Kärnten nach Oberbayern hatte er zu Fuß zurückgelegt, über den Alpenhauptkamm, durch den Tauerntunnel, stets auf milde Gaben angewiesen. Lange blieb er allerdings nicht bei uns. Er zog nach Berlin weiter, wo unsere ebenfalls ausgebombten Großeltern in unserer Wohnlaube in Wittenau wohnten. Zu Beginn des neuen Schuljahres, er war jetzt fast 15 Jahre alt, wollte er sich wieder in der Oberschule in Berlin anmelden, »um seine Chancen zu wahren«, wie meine Mutter sagte.
Wir, meine Mutter, meine beiden jüngeren Brüder und ich, blieben aber vorerst in Bayern. Der Unterricht in der Dorfschule ging ja weiter und in unserer Laube in Berlin konnten drei Erwachsene und vier Kinder nur schlecht zusammenwohnen. Erst im August 1946 konnten wir nach Berlin zurückziehen. Mein Großvater war unterdessen im Alter von 75 Jahren an einer Blutvergiftung verstorben. Er hatte sich beim Holzhacken verletzt, Antibiotika waren damals nicht zu bekommen. Meine Großmutter zog zu ihrer Tochter Klara nach Ost-Berlin – die Wohnlaube wurde frei.
Unser Bauer wollte mich auf seinem Hof behalten. Da ich anstellig und flink war, meinte er, dass ich gern bei ihm unterkommen könne. In Berlin gäbe es ohnehin nichts zu essen, und auch keine Lehrstellen. Meine Mutter hätte es leichter, wenn ich in Bayern bliebe. Sie lehnte aber ab: Auf dem Dorf könne ich nichts fürs moderne Leben lernen, nicht weiterkommen. Außerdem sei ich für einen Knecht zu schade und dass ich als Flüchtlingskind einen Hof bekäme, sei auch nicht zu erwarten.

Viel später meinte sie einmal zu mir, dass sie sich ja vor ihrem Mann hätte schämen müssen, mich bei Bauern wie ein überflüssiges Möbelstück abzugeben, nur damit sie, die leibliche Mutter, es leichter gehabt hätte. Die Fahrt nach Berlin dauerte mehrere Tage, wir mussten zahlreiche Zwischenstopps einlegen und öfter den Zug wechseln. Die meisten Fahrgäste stammten aus der ehemaligen Reichshauptstadt – Evakuierte, die eine Sondergenehmigung für den Zuzug vom jeweils zuständigen alliierten Stadtkommandanten ihres Sektors bekommen hatten. Selbst im Herbst 1946 herrschte hier noch Zuzugssperre. Berlin war ein riesiges Trümmerfeld und Wohnraum Mangelware.
Auf einigen Bahnhöfen hatten das »Rote Kreuz« und die »Caritas« Versorgungsstationen mit Getränken und Wasser eingerichtet. Als wir nach drei Tagen in Berlin eintrafen, hatten wir immer noch etwas Proviant aus Bayern übrig. Da wir nicht mit einem üblichen Reisezug unterwegs waren, fuhr unser Zug auch nicht in einen regulären Bahnhof, sondern in den Steglitzer Güterbahnhof ein. Von dort aus brachten Busse die Reisenden in die einzelnen Bezirke.
Unser Bus fuhr durch eine fast autofreie Stadt. Ganze Straßenzüge lagen noch in Schutt und Trümmern, Ziegelsteine waren an den Gehwegrändern zu Mauern und Mäuerchen sauber aufgestapelt, teilweise bis zu zwei Meter hoch.
Hunderte von leeren Fensterhöhlen grinsten uns an wie ausgestochene Augen. Andere Fenster waren mit Brettern zugenagelt, Ofenrohre durchbrachen wie Atemlöcher die Bretterwand, und aus manchen Schuttbergen ragten Kamine wie geologische Zeugnisse aus vorgeschichtlichen Erdzeitaltern heraus. Schon auf dieser Fahrt durch das zertrümmerte Berlin sehnte ich mich zurück ins grüne idyllische Bayern. Warum waren wir überhaupt in diese Stadt gekommen? Der Zukunft wegen, meinte meine Mutter. Doch die kommt bekanntlich in Raten.
Erst einmal fuhren wir zur ärztlichen Untersuchung und zur Entlausung – für normale Reisende ja eher ungewöhnlich. Aber nun begann ein neuer Abschnitt in meinem Umzugs- und Zigeunerleben.

Brennholz und Kartoffeln
Berlin bedeutete für mich nicht nur eine Umstellung vom Land auf die Stadt, Berlin war einfach eine riesige Enttäuschung. Das freie Durchstreifen von Wiesen und Wald, von Scheunen und Bauernhof war vorbei, ich sah keine Pferde und Kühe mehr, keine Hühner und Enten und‚ was das Schlimmste war: Es gab viel weniger zu essen. Hunger hatte ich jetzt im Grunde immer.

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