Leseprobe aus den Buch:
Bild Unvergessene Schulzeit
1921-1962. 68 Erinnerungen von Lehrern und Schülern

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Bildquelle: Hans-H. Vogt
Meine kleine Schwester bewundert meine Schultüte
 
Bildquelle: Hans-Heinrich Vogt
In Begleitung meiner Mutter mache ich mich 1933 das erste Mal auf den Weg zur Schule (rechts) in Schmolz (heute Smolec). Foto: aus dem Privatbesitz des Verfassers.

Doktorjunge

von Hans-Heinrich Vogt  //  Schmolz bei Breslau, 1933-1936

Im Fotoalbum meiner Eltern gibt es ein Bild von einem kleinen Jungen, der an der Hand seiner Mutter, die Schultüte im Arm, zuversichtlich den Weg ins Leben antritt, den Weg in die erste Klasse der dörflichen Volksschule in Schmolz bei Breslau. Dieser Junge war ich.
Bald zeigte sich, wie dornenvoll dieser Weg sein sollte. Der Grund lag in einer Erziehungsmaxime meiner Eltern. Sie hatten uns Kindern in den frühen Lebensjahren eine sorgenfreie, ungehinderte Entfaltung sichern wollen. Das Haus, in dem wir wohnten, lag inmitten eines riesigen, völlig verwilderten Grundstückes, dessen Grenzen zugleich die Grenzen unserer Erfahrungswelt wurden: Über die hohen Zäune hinaus blieb uns die Umgebung verschlossen.
Das beengte uns keineswegs. Wir lebten in einer Art Dornröschenwelt, isoliert vom Dorf, aber glücklich in dieser Abgeschiedenheit. Hatten wir doch alles, was man sich als Kind wünschte: Weite Wiesen mit hohem Gras, in dem man sich verstecken konnte, Hecken aus Holunderbüschen, unter denen es stets geheimnisvoll dunkel war und wo es stets abenteuerlich nach Moder roch, mächtige Pappeln und Eichen, Obstbäume, verschlungene Wege – kurz, ein Wunderland für Kinder, ganz für uns allein, für meine Schwester und mich.
Was unsere Eltern nicht bedacht hatten: Diese Isolation brachte uns zwar das Glück unbeschwerter Jahre, aber der Übergang ins rauhe Leben der Schulzeit war grausam. An jenem Tage, als ich das Klassenzimmer der Volksschule betrat, begann ein Martyrium. Die verschworene Gemeinschaft der kumpelhaften Dorfjugend, aufgewachsen in Dialekt und Denkweise einer mir fernen Welt, fiel über mich, den „Doktorjungen“, mitleidlos her und drangsalierte den Außenseiter. Es gibt nichts Gefühlloseres als Kinder, die andere Kinder peinigen. Wer nicht gelernt hat, sich zu wehren, ist hoffnungslos verloren – und ich war es. Dieses Anstarren, das Zupfen an der Jacke, das Spotten, die zotenhaften Anspielungen, all das werde ich nie vergessen.
Wir Erwachsenen würden diese Lehrzeit als nützlich bezeichnen: Setz dich durch, werde ein Mann! Ich wurde es, aber nach wieviel Lehrgeld! Lange Zeit hatte ich keine Freunde in der Klasse, keinen Gleichaltrigen, niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen können.
Es muß wohl in der zweiten oder dritten Klasse der Volksschule gewesen sein, als mir eine Chance geboten wurde, die ich nutzte. Damals war es üblich, daß die Horde der Dorfjugend sich in wilden Fußballspielen austobte. Man ging „botzen“. Am Waldrand lag eine Lichtung, auf der man in Gruppen Mannschaften bildete und bei ruppigem Geraufe auf Tore schoß, die die Jungen aus Holzlatten gebastelt hatten.
Natürlich durfte ich nicht mitspielen. Ich gehörte ja nicht dazu, war kein Rauhbein. Nie hatte man mich aufgefordert, mitzutun. Dabei fehlte es mir keineswegs an Können. In unserer Oase der Isolation hatten meine Schwester und ich eine beachtliche Fertigkeit im Umgang mit dem Ball erworben, konnten dribbeln, täuschen, flanken, auf Tore schießen. In der Schule war ich kein schlechter Sportler, aber hier ging es um die Clique, von der ich ausgeschlossen war.
Ich saß also am Waldrand und schaute zu. Das werde ich nicht vergessen: Plötzlich wies der Wotzig Paule, der größte und stärkste Flegel der Bande, ihr Häuptling, mit dem Finger auf mich und brüllte: „Na, Doktorjunge, zeig uns mal, daß du botzen kannst!“
Ich weiß bis heute nicht, ob er mich provozieren, mich lächerlich machen wollte, oder ob ich von ihm eine Chance bekam, aus welchen Gründen auch immer. Nur eines weiß ich: Das war mein „Auftritt“. Und, ich spielte Fußball mit allen Raffinessen, die mir zu Gebote standen, trickste, sprintete, schoß. Nach wenigen Minuten fiel mein erstes Tor.
Die Burschen ließen sich nicht anmerken, was sie dachten. Ich hab’s an diesem Tag auch nicht erfahren. Als ich nach Hause kam, schlug meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammen: So schmutzig, so verschwitzt hatte sie ihren Filius lange nicht gesehen, sie fragte aber nicht weiter.
Den Lohn meines Einsatzes empfing ich am nächsten Morgen in einer Geste, die man heute wohl als Goodwill bezeichnen würde. Vor der Tür des Klassenzimmers traf ich mit Wotzig Paule zusammen. Er stieß mir fast sanft die Faust in die Seite und grunzte: „Heil Botzer!“
Diesen Ausdruck muß man aus der Zeit heraus verstehen, die mit der Floskel „Heil“ den Namen „Hitler“ verband. Diesen Namen durch einen anderen, persönlicheren zu ersetzen, bedeutete Akzeptanz – und genau das wollte Paule ausdrücken: Mit „Heil Botzer!“ war ich aufgenommen in die Clique, war nicht mehr der Außenseiter, der „Doktorjunge“, sondern Fußballspieler, dessen Leistungen man noch darüber hinaus anzuerkennen bereit war.
Ich hatte den Makel, mit dem meine Eltern mich unwissentlich und unbeabsichtigt belastet hatten, durch eigene Fähigkeit abgestreift.

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