Bild: zeitgut Buchcover
Schicksalstage 1945
Kriegsende in Deutschland

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Neuenkirchen/Lühe bei Horneburg im Alten Land
Frühjahr 1945

Die Brücke
Usala Thomsen

Nachdem wir 1943 in Hamburg ausgebombt worden waren, zogen meine Mutter und ich zu meinem Großvater ins Alte Land, in ein kleines Straßendorf bei Horneburg. Mein Vater mußte in Hamburg bleiben, weil er bei der Hamburger Hochbahn gebraucht wurde. Das Dorf, in dem wir jetzt wohnten, lag an der Lühe, einem kleinen Nebenfluß der Elbe. Die einzige Brücke im Ort war noch ziemlich neu, und die Bewohner waren stolz darauf. Sie wurde auch dringend benötigt, denn der einzige Bäcker wohnte auf der anderen Seite in dem winzigen Dorf Guderhandviertel.
Dafür hatten wir in Neuenkirchen einen Lebensmittelladen, der auch von den Anwohnern der anderen Seite täglich besucht wurde. Er gehörte der Familie Hellwege. Lieschen Hellwege stand hinter dem Tresen und wog Mehl und vieles mehr ab. Ihr Mann wurde Jahre später Landrat und danach Minister. Ihr Haus stand der Brücke genau gegenüber.
Als der Krieg zu Ende ging, zogen sich die deutschen Soldaten Richtung Elbe durchs Alte Land zurück, nachdem sie die Brücke in Horneburg gesprengt hatten, um die Engländer, die schon im Anmarsch auf Horneburg waren, aufzuhalten. Nun wollten die letzten durchziehenden deutschen Soldaten auch unsere schöne neue Brücke um Mitternacht in die Luft jagen. Sie brachten gegen Abend Zündsätze mit Spätzündern an und warnten die entsetzten Anwohner der umliegenden Häuser. Auch die Familie Hellwege mit ihren drei kleinen Kindern verließ ihr Haus.
Die Nachricht von der bevorstehenden Sprengung verbreitete sich in Windeseile und erreichte auch uns. Wir wohnten etwa einen Kilometer entfernt und lebten mit Großvater und seinem unverheirateten Bruder und zwei Brüdern meiner Mutter zusammen unter einem Dach. Die Männer steckten die Köpfe zusammen und suchten einen Ausweg, um die Brücke zu retten. Onkel Ernst, Großvaters Bruder, nahm eines unserer Boote und fuhr Richtung Brücke, um dort Aalreusen auszusetzen und dabei die Soldaten beim Anbringen der Zündsätze zu beobachten. Mißtrauisch schauten die Soldaten zu Onkel Ernst, aber der tat sehr beschäftigt. Wieder zu Hause, erstattete er Bericht, wo sich die Zündsätze befanden.
Als es dunkel genug war, zogen sich die drei Männer ihre schwarzen Gummistiefel an und die blauen Strickmützen über die Ohren, damit nicht viel vom hellen Gesicht zu sehen war. Es war ihre Fischerkluft. Sie nahmen abgedunkelte Stallaternen und schlichen über den Deich hinunter in unser kleinstes und leichtestes Boot. Während sich die beiden Brüder auf dem Boden zusammenkauerten, bewegte Onkel Ernst das Boot lautlos auf die Brücke zu. Die Männer horchten in die Nacht. Sie mußten ja damit rechnen, daß dort oben ein Posten stand. Unter der Brücke hielt Onkel Ernst das Boot fest und die beiden anderen Männer entfernten vorsichtig – ganz vorsichtig! – die Zündsätze und warfen sie ins Wasser.
Lautlos entfernten sie sich von der Brücke. Das Unternehmen war ein großes Risiko. Es hätte ja noch eine Wache irgendwo in der Nähe sein können und dann wäre auf sie geschossen worden. An unserem Anlegesteg vertäuten sie das Boot und schlichen ungesehen mit den gelöschten Stallaternen ins Haus. Großvater, meine Mutter und ich atmeten erleichtert auf.
Die in der Nähe der Brücke wohnenden Nachbarn warteten in dieser Nacht vergebens auf die Sprengung, und einige suchten am Tag danach die Sprengsätze, die nun verschwunden waren. Wir schwiegen eisern, denn so etwas zu riskieren, bedeutete, vors Kriegsgericht gestellt zu werden.
Als die Engländer unser Dorf erreichten, war der Krieg schon aus.
Lieschen Hellwege zog wieder in ihren Laden und unser späterer Minister verkaufte hinterm Haus weiter Spritzmittel für die Obstbäume.
Als später Heinrich Hellwege Minister war, besuchte „Papa Heuss"*) ihn. An der Brücke wurde er feierlich von meinem Onkel, der zu der Zeit Bürgermeister war, mit einer kurzen Rede willkommen geheißen und die älteste Tochter von Hellwege überreichte in Altländer Tracht einen Zinnlöffel voll Schnaps, bevor er die Schwelle des Hauses übertreten durfte. Auf und um unsere Brücke drängten sich die Menschen, und ich verknipste einen ganzen Film dabei.
Nun sind meine Onkel, Heinrich Hellwege und Theodor Heuss lange tot, aber die Brücke steht heute noch. Nur die Brücke und ich wissen warum.

*) Deutscher Bundespräsident von 1949-1959

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