Leseprobe aus dem Buch:
Titel Unvergessene Schulzeit
Erinnerungen von Schülern und Lehrern.
1921-1962. 384 Seiten
gebundener Doppelband
ISBN 978-3-86614-140-7
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Bildquelle Ursula Sonnemann
Die 14jährige Ursula Sonnemann 1939.
Der Klassenkamerad Freddi ärgert Ursula auf dem Schulheimweg mit einem Schneeball. Ursula empfindet das nicht mehr als Spaß.

Wo sind sie geblieben?
Ursula Sonnemann
1933-1938 Bad Pyrmont

Zu Hause erzähle ich den Vorfall meinem Vater, in der Hoffnung, er würde unserem Lehrer Bescheid geben, der dann, wie üblich, das Strafmaß für solche Taten festsetzt. Vater fragt nur nach dem Namen und der Straße, in der Freddi wohnt, und Mutter gibt mir trockene Wäsche.

In den nächsten Tagen warte ich vergeblich auf die Strafe des Lehrers. „Papa“, frage ich, „hast du dem Lehrer nicht über Freddis Gemeinheit berichtet?“
„Ach, weißt du“, antwortet mein Vater, „ich habe mit Freddi gesprochen, er wird es nicht wieder tun, das hat er mir versprochen. Man soll Lehrer mit solchen Sachen nicht belästigen und überhaupt, du bist doch ein deutsches Mädel, und deutsche Mädchen petzen nicht.“
So kenne ich meinen Vater nicht. Bisher habe ich mich bei ihm immer geborgen und von ihm beschützt gefühlt. Und mein Rachegefühl Freddi gegenüber kann ich auch nicht befriedigen. Wieviel Freude hätte es mir gemacht, wenn er von unserem Lehrer eine richtige Tracht Prügel, und die noch vor der ganzen Klasse, bekommen hätte! Ich bin enttäuscht.

Ein Jahr später fehlt Freddi in der Schule. Er kommt auch nicht wieder. Wir Schüler kennen den Grund nicht. Ich bin nicht gerade traurig darüber, denn ein bißchen Angst habe ich immer noch vor ihm, ...

Erleichtert erzähle ich meinen Eltern vom Wegbleiben Freddis. Da nimmt mich mein Vater mit in sein Zimmer. Ich muß mich auf seinen Schoß setzen, und er beginnt zu erzählen: „Du hast schon gehört, daß es Juden in Deutschland gibt. Juden sind bei Hitler und den Nationalsozialisten unerwünscht. Freddi ist ein Kind jüdischer Eltern. Was Freddi damals mit dir gemacht hat, war ein dummer Jungenstreich. Wenn ich deinem Lehrer Bescheid gegeben hätte, wäre Freddi bestimmt von der Schule entlassen worden. Womöglich wären die Eltern in ein Lager gebracht worden, in dem sie hätten hart arbeiten, hungern und frieren müssen.
Jeder anderer Junge hätte normale Prügel bezogen, Freddi dagegen wäre entsetzlich gestraft worden. Ich denke, du bist alt genug, zu verstehen, warum ich deinem Lehrer keine Meldung machte. Willst du etwa, daß eine ganze Familie ins Unglück gestoßen wird nur wegen ein paar Schneebällen? Gewiß war es nicht gut, was Freddi getan hat, aber das Strafmaß stände in keinem Verhältnis zur Tat.“
„Und wo ist Freddi jetzt?“ frage ich meinen Vater.
„Das weiß ich nicht.“ Und er wußte es tatsächlich nicht.
 „Über diese Sache darfst du mit keinem sprechen“, sagt Vater, „ich könnte sonst arge Schwierigkeiten in der Schule bekommen. Also, abgemacht, du schweigst darüber.“
„Ja“, erwidere ich ganz leise, ich schäme mich ein bißchen, ich wußte nicht, daß Freddi Jude ist, und erstmals wird mir bewußt, daß es Juden in Deutschland schlecht ergeht.

Marianne
„Sind die Entschuldigungen für die fehlenden Schüler eingegangen?“ fragt unser Lehrer den Klassenobmann, der für die Eintragungen im Klassenbuch zuständig ist.
„Ja, alle, bis auf die Entschuldigung von Marianne. Sie fehlt schon drei Tage unentschuldigt.“
„Marianne, ach ja, laß man, die ist verzogen“, sagt der Lehrer, „um die brauchst du dich nicht mehr zu kümmern.“
Nun werden wir neugierig, Marianne hat nichts von einem Umzug gesagt. So plötzlich zieht man doch nicht um, denken wir. Anni kann ich nicht fragen, sie nimmt an einer Führerinnenschulung teil und hat dadurch unterrichtsfrei. Einige Mitschülerinnen und ich beschließen, zu Mariannes Wohnung zu gehen. Sie wohnt nicht weit von der Schule entfernt gleich neben dem neuen Postamt in einer grün- und weißgestrichenen Villa. Ihr Vater ist Arzt.

Unentschlossen stehen Gerda, Ilse und ich vor dem Haus. „Was sollen wir machen?“ fragt Ilse.
Gerda meint: „Marianne wird nicht weggezogen sein. Seht nur, ihr lustiger bunter Wellensittich sitzt in seinem Käfig am Fenster, die Gardinen hängen noch und auch die Blumentöpfe stehen auf dem Fensterbrett“. Den Wellensittich hat Marianne zum Geburtstag bekommen. Sie liebt ihn sehr, bestimmt hätte sie ihn mitgenommen. Wir gehen die wenigen Treppenstufen zur Haustür hinauf und klingeln. Eine fremde Frau öffnet. „Was wollt ihr denn hier?“ fragt sie.
„Wir möchten Marianne besuchen, sie ist unsere Klassenkameradin.“
„Marianne wohnt nicht mehr hier.“
„Können sie uns die neue Adresse von Marianne sagen? Wir wollen ihr schreiben“, erwidert Ilse.
„Die weiß ich nicht. Macht jetzt, daß ihr nach Hause kommt!“ sagt die Frau in barschem Ton und schließt die Tür.

Nun stehen wir unverrichteter Dinge da. Wir überlegen, was wir nun tun können, um zu erfahren, wo sich Marianne aufhält. Ganz für mich alleine überlege ich: Freddi ist weg, jetzt Marianne, vor längerer Zeit unsere Nachbarn, die Löwensteins und die Müllers. Die Letzteren hatten ihre Gardinen auch nicht mitgenommen, als das Auto mit den Männern im Ledermantel kam. Im Lager, erklärte mir mein Vater, können sie diese Sachen nicht gebrauchen. Sollte Marianne vielleicht eine Jüdin sein?
Doch dieser Gedanke ist unvorstellbar, denn Marianne ist blond und blauäugig. Ich verwerfe ihn sofort wieder.
„Laßt uns gehen“, fordere ich die anderen auf.
Als wir auf der Kreuzung Herder-/Goethe-Straße ankommen, fällt unser Blick auf das große Plakat an der Litfaßsäule, von dem uns eine gräßliche Fratze mit pickeligem, unrasiertem Gesicht und einer riesigen Hakennase, fehlenden Zähnen im Mund und einer Schlägermütze auf dem Kopf angrinst. Fett gedruckt steht das Wort JUDE darunter.
„Vielleicht sind Mariannes Eltern Juden?“, überlegt Gerda und spricht damit aus, was auch ich befürchte.
„Das glaube ich nicht, Marianne ist nicht dreckig“, entgegnet Ilse. „Aber ich habe schon gehört, daß Juden ganz plötzlich verschwunden sind.“
Ich beteilige mich an diesem Gespräch nicht, ich habe ja meinem Vater versprochen, nicht über Juden zu sprechen.
Am nächsten Morgen stellen Gerda und Ilse unserem Lehrer die Frage: „Ist Marianne Jüdin?“
„Ja“, sagt er, dreht sich zur Tafel und beginnt mit dem Unterricht. – Mariannes Platz bleibt für immer leer.
Nach diesem Erlebnis will ich es genau wissen: Wie sieht ein Jude aus, woran erkennt man ihn?
Ich forsche bei meinen Eltern, bei meiner Großmutter, bei Onkel und Tanten, bei Bekannten. Fast immer bekomme ich die gleiche Antwort: „Das weiß ich nicht.“

Nur mein Vater gibt mir eine verständliche Erklärung: „Du hast schon genug Juden kennengerlernt, Frau Löwenstein, Tina und Sarah, Frau Müller, Freddi und Marianne. Also weißt du selbst, wie sie aussehen, nämlich wie ganz normale Menschen.“
„Dann kann ich äußerlich keinen Juden erkennen?“ – „Nein.“ – „Und warum wird der Jude auf den Plakaten so scheußlich dargestellt?“
„Die Bilder sind ein Teil der Hetzpropaganda gegen Juden“, erklärt mir mein Vater nach einiger Überlegung. „Aber du sprichst kein Wort darüber, hast du das gehört?“
Ich verspreche es. Nach einigem Schweigen stelle ich dann zögernd die mir schon so lange auf der Zunge brennende Frage: „Sind wir denn vielleicht auch Juden?“
„Nein“, sagt mein Vater.
Ein Stein fällt mir vom Herzen, obwohl ich sehr traurig bin über das ungewisse Schicksal von Marianne ...

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