Nicht nur zur Weihnachtszeit:
Bild Der Igel in der Weihnachtskrippe und andere Tiergeschichten
31 Erinnerungen. 1925-2004
192 Seiten, viele Abbildungen, gebunden
ISBN 978-3-86614-212-1
9,95 Euro
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Unser Reh, das Findelkind

Anneliese Pioch mit Kitz
Anneliese Pioch 1962 mit ihrem Rehkitz

Geschichte von Anneliese Pioch 

Klam, Bezirk Perg, Oberösterreich, 1962

Im vierten Jahr meiner Grundschulzeit hatte ich freiwillig die Aufgabe übernommen, eine wöchentliche Zeitung in unserem kleinen Ort Klam zu verteilen. Nach der Schule war das eine wunderbare Beschäftigung, denn die Häuser lagen mehr oder weniger weit voneinander entfernt, und auf dem Weg gab es so manches Interessante zu entdecken und zu beobachten.
An einem sonnigen Tag im Mai war ich mit meiner Aufgabe so gut wie fertig, nur eine Zeitung galt es noch zuzustellen an eine Familie, die in der Schlucht von Klam wohnte. Das Haus lag an einem Bach, der sich sein Bett im Laufe einer langen Zeit durch Granitfelsen gegraben und eine wildromantische Umgebung geschaffen hatte. Selten begegnete man einem Wanderer, die Natur konnte sich ungestört entfalten. An manchen Stellen stapelten sich die Granitblöcke bizarr übereinander und bildeten geheimnisvolle Figuren und Höhlen, die die Fantasie beflügelten.
Durch diese Gegend lief ich mit meiner letzten Zeitung, als ich plötzlich ein Rascheln hörte und gleich darauf ein Reh vor mir die Flucht ergriff. Wir waren sehr voreinander erschrocken. Das Tier stieß einen lauten Schrei aus, bevor es von dem Felsen sprang, auf dem es geruht hatte. Mich irritierte eine Blutspur, die es hinterließ. Aber dann entdeckte ich ein kleines Rehkitz, das absturzgefährdet am Rand des Felsens lag – offensichtlich neugeboren, doch das konnte ich damals noch nicht erfassen. Ganz aufgeregt rannte ich zu meiner letzten Zustellstation. Da niemand zu Hause war, stopfte ich schnell das Blatt hinter das Fenstergitter und eilte zurück zum Felsen. Das Rehkitz war mittlerweile über Moospolster heruntergefallen und lag vor mir in den Brennesseln. Natürlich hatte ich Angst, daß es sich verletzt hätte und begann, es vorsichtig zu streicheln. Es war allerliebst. In meiner Begeisterung nahm ich es in den Arm und rannte mit ihm nach Hause.
Dort mußte ich von meinen Eltern erfahren, daß es keine gute Idee gewesen war, das Tierkind anzufassen und mitzunehmen. Ich sei gerade nach der Geburt vorbeigekommen und habe die Rehmutter verscheucht. Das betrübte mich sehr. Nun, vielleicht war ja noch nicht alles verloren. Ich solle es auf den gleichen Platz zurückbringen, schlugen die Eltern vor, und beobachten, ob die Rehgeiß zurückkäme und es versorge. Gesagt, getan. Meine älteren Schwestern begleiteten mich, und wir versteckten uns in einer nahegelegenen Mühle. Leider kam die Rehmutter nicht zurück.
Ich fühlte mich immer schuldiger und hatte Angst, das kleine Reh müßte nun verhungern. Deshalb bat ich unseren Vater, den Förster zu fragen, ob wir das Reh versorgen dürften. Ja, er erlaubte es!
Schnell mußte eine Babyflasche besorgt werden. Aber Kuhmilch verweigerte das Kitz, Kamillentee löschte den Durst, stillte aber nicht den Hunger. Irgend jemand kam auf die gute Idee, es mit Ziegenmilch zu probieren. Wir rannten zum Nachbarn, dessen Ziege wurde gemolken, und zu Hause trank unser Rehkitz die Flasche in vollen Zügen leer. Das war die Rettung!
Unser Rehlein fand in der Küche zwischen Wand und Anrichte einen geschützten Platz, von mir gut mit Heu ausgepolstert. Am liebsten hätten wir Kinder nun alle in der Küche geschlafen. Aber Mutter sorgte für realistische Verhältnisse. Wir versprachen, uns gut um das Tier zu kümmern, es zu füttern und sauberzuhalten. Mit Letzterem waren wir Kinder wirklich gefordert. Wie sollte man einem Reh beibringen, nur auf einer bestimmten Stelle „zur Toilette" zu gehen?
Das war unmöglich. Wir putzten, schrubbten, wienerten und gaben uns alle Mühe, um Mutter ja nicht zu verärgern und das Tierchen behalten zu dürfen.

Anfangs lag unser Findelkind ganz scheu auf seinem Plätzchen. Nur wenn es Hunger hatte, kam es hervor und mühte sich, auf seinen langen, noch wackeligen Beinen zu stehen. Ich mochte es von Herzen gerne und wurde auch von ihm als Ersatzmutter ganz und gar akzeptiert. Bald lief das Kitz mit, wo immer wir Kinder spielten – im Garten, auf der Straße, selbst beim Fangenspielen sprang es aufgeregt zwischen uns herum. Und wenn wir zum Schwimmen im naheliegenden Bach gingen, kam es auch mit.
Es gedieh prächtig. Wir holten täglich Ziegenmilch. Nicht lange, und es nahm von den frischen Gräsern im Garten. Und nicht nur diese!
Vaters Rosengarten wurde ein magischer Anziehungspunkt. Wir Kinder waren angehalten, die Rosen lieber im Garten zu bewundern und nicht in der Vase. Was kümmerte das aber unser Rehkind?
Es erkannte schnell die botanische Verwandtschaft zu Brombeer- und Himbeersträuchern und nahm genüßlich von den Blättern der von Vater emsig gehegten Rosen. Unser Vater war in einer Zwickmühle. Er mochte das Tier sehr und flehte es an, seine Rosen zu verschonen, aber bald standen im Garten blühende Rosensträucher ohne ein einziges grünes Blatt. Was für ein Anblick!

Im Laufe des Sommers bekam das Reh eine Hütte draußen im Garten. Dort ruhte es, bis wir Kinder morgens aus dem Haus gerannt kamen. Natürlich war der erste Gang zu ihm. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, mein Findelkind und ich. Selbst bei einem Spaziergang im Wald wich es nicht von meiner Seite. Das sollte so bleiben, bis die Ferien zu Ende waren. Für mich stand ein bedeutender Schulwechsel bevor. Es war aus mit der gewohnten Freiheit und meinen täglichen Abenteuern in der Natur. Ich mußte nun in ein Internat in Linz, weil es damals in der näheren Umgebung unseres Ortes noch keine weiterführenden Schulen gab. Das war schrecklich. Der Abschied von meinem geliebten Tier, den Eltern und Freunden, aber auch von meinen wunderschönen täglichen Naturerlebnissen, fiel mir unendlich schwer. Auch das Reh vermißte mich. Anfangs verweigerte es seine Flasche, bis ich das erste Wochenende nach Hause durfte. Wir freuten uns so sehr, uns wiederzusehen!
Die Welt war für kurze Zeit wieder in Ordnung. Doch es blieb dabei: Von nun an konnten wir uns leider nur alle zwei oder drei Wochen sehen. Darüber war ich sehr traurig.
In meiner Abwesenheit ging mein Vater jeden Tag mit dem Reh spazieren. Abends vor dem Zubettgehen wurde noch ein ausführlicher Rundgang gemacht. Dabei konnte es über die Wiesen laufen, sich austoben, und kam doch immer wieder zu ihm zurück. Aus dem hilflosen Kitz war ein stattliches Tier geworden, gut genährt und schön anzusehen. Es trug ein dunkelrotes Halsband. Daran erkannten es die Menschen in der Umgebung und wußten, daß es zu uns gehörte.

Die Tage wurden kürzer, es wurde kühler, abends zog der Nebel in die Talebene. Es war November. Wie jeden Tag ging Vater mit unserem Reh abends über die Wiesen. Plötzlich sprang es um ihn herum – aufgeregt, er wußte gar nicht, was mit ihm los war –, und mit einem Sprung verschwand es im dichten Nebel!
Er rief es, wartete, ging den täglichen Weg mehrmals hin und her, aber von dem Reh war nichts mehr zu sehen. Ohne unseren Liebling ging er nach Hause. Das Tier schien sich wirklich von ihm verabschiedet zu haben und war seinen natürlichen Instinkten gefolgt. Als ich zum Wochenende davon erfuhr, konnte ich es nicht fassen. Alle Wälder der Umgebung durchsuchte ich systematisch, immer wieder rief ich es, aber meine Bemühungen waren vergeblich. Alle trösteten mich mit dem Gedanken, es habe wohl andere Rehe getroffen, in deren Gesellschaft es sich wohlfühle.

Wochen vergingen. Mittlerweile war richtiger Winter – kalt, und es lag viel Schnee. Eines Morgens sah ich im Garten frische Rehspuren. Die konnten nur von unserem Findelkind sein! Wahrscheinlich trieb der Hunger es wieder in die Nähe von uns Menschen. Wir legten reichlich Heu bereit. Immer wieder versuchte ich, nachts wachzubleiben, mich hinter der Gardine zu verstecken und zu beobachten, ob unser Tierchen wieder in den Garten kam. Es gelang mir nicht, es noch einmal zu sehen. Letztlich vertraute ich dem Trost der Eltern, daß es für das Tier wichtig war, wieder in der Natur zu leben.
Es wurde wieder Frühling, der Sommer zog ins Land, als wir von einem Jäger aus unserem Ort hörten, er habe unser Reh öfter grasend am Waldrand gesehen. Das war eine gute Nachricht! Es schien ihm gut zu gehen. Ein weiteres Jahr später führte unsere Ricke sogar zwei Rehkitze. Unglaublich, das war toll! Sie hatte es geschafft, sich wieder in der Natur zurechtzufinden.


Aus "Der Igel in der Weihnachtskrippe und andere Tiergeschichten"
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