Leseprobe aus dem Buch:
Buchcover Im Konsum gibts Bananen
Alltagsgeschichten aus der DDR
1946-1989. 
Reihe Zeitgut Band 31
320 Seiten. Klappenbroschur
ISBN 978-3-86614-264-0
Mehr erfahren »
 
Bildquelle Karin Dersch
Die Familie von Karin Dersch im Jahr 1963. Links die Brüder Golly und Michael, in der Mitte die Eltern, die Schwestern Christel und Karin.
Freie und geheime Wahlen
von Karin Dersch aus dem Buch "Im Konsum gibt's Bananen"

Mitte der fünfziger Jahre in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Meine Eltern und Oma hatten den kleinen Kolonialwarenladen in Berlin-Friedrichsfelde mühevoll über den Krieg gerettet. Lebensmittel, Gemüse, Seifenartikel. Das war auch der Grund, weshalb vor meinem Namen im Klassenbuch nicht ein „A“ wie „Arbeiterkind“, sondern eine „K“ wie „Kapitalistenkind“ stand. Nicht nur meinen Geschwistern und mir, sondern diesen Kapitalisten machte man das Leben schwer. Sie erhielten immer weniger Waren, und mein Vater mußte immer öfter zu den Kunden sagen: „Das habe ich leider nicht, versuchen Sie es doch mal in der HO oder im Konsum.“
Im Oktober 1954 sollten die nächsten Volkskammerwahlen stattfinden. Es begann zwei, drei Wochen vor den Wahlen. Mein Vater grübelte viel, er war kaum ansprechbar. Dann, eines Abends zwischen Butterstullen und Brause, verkündete er der Familie, daß er diesmal nicht wählen gehen werde. Den fertigen Wahlzettel der Nationalen Front (wie offiziell gewünscht vor den Augen der Anwesenden) nur zusammenfalten, nichts ändern oder durchstreichen, ohne Wahlkabine das Papier in die Urne zu stecken, das wären für ihn keine Wahlen. Er würde erst wieder gehen, wenn man zwischen verschiedenen Kandidaten und Parteien wählen könne. Er verlange von dieser DDR nichts weiter als freie geheime Wahlen, und er wolle auch nicht wie Tante Hilde demonstrativ aus Protest eine Wahlkabine aufsuchen. Er würde nicht gehen.
Vater: „Die 99,9prozentige Wahlbeteiligung werde ich ihnen diesmal gründlich vermasseln.“
Ihr werdet jetzt sagen, na und, was bedeutet das schon?
Da geht einer einfach nicht zur Wahl. Nein, so war das nicht, nicht zu wählen bedeutete damals, man machte sich strafbar. Später, vor dem Ende der DDR haben es viele nicht mehr getan, aber zu dieser Zeit war es noch fast unmöglich.
Der Wahlsonntag rückte näher, trüber grauer Nieselregen, und Vater ging nicht zur Wahl. Bis etwa 16.00 Uhr geschah nichts. Um 16.10 Uhr klopfte es an der Tür. Wir machten nicht auf, stellten uns taub. Um 16.20 Uhr kletterten zwei Männer, uns unbekannt, über die Mauer im Hinterhof. Ich versteckte mich mit meiner Schwester unter dem großen Tisch im Wohnzimmer. Mutter, Oma und Vater standen hinter den Gardinen. Meine Brüder hatten sich oben im Bad verschanzt. Dann gingen die Männer wieder, kamen aber bald mit Verstärkung zurück, danach alle Viertelstunde, zum letzten Mal noch kurz vor 18 Uhr. Beim Klopfen blieb es nicht. Sie liefen ums Haus herum und schlugen an die Fenster und Tür, riefen laut: „Herr Schubert, machen Sie auf! Wir wissen, daß Sie da sind. Kommen Sie wählen!“
Dann, nach 18 Uhr, war endlich Ruhe. Die Männer erschienen nicht mehr. Jetzt hatten die Wahllokale geschlossen. Meine Eltern waren fix und fertig. Und ich spüre noch heute, nach all den Jahren, wenn ich daran denke, wie damals die Angst. Es gibt Ereignisse, deren Bilder auch nach so langer Zeit nichts von ihrer Schärfe verlieren. Wenn ich die Augen schließe, kann ich diese Männer immer noch vor mir sehen, wie sie über den Zaun kletterten und laut und deutlich ihre Stimmen hören. Meine Eltern waren mit den Nerven am Ende, aber wir hatten es geschafft, unser Vater war nicht zur Volkskammerwahl gegangen.
In den folgenden Tagen passierte nichts. Wir waren gespannt und warteten ab, aber niemand kam und holte unseren Vater ab.
Einige Tage danach stand ein unscheinbarer Mann im Laden. „Gewerbeaufsichtsamt Kontrolle“, sagte er, jener kleine Mann im graublauen Anzug mit dem Parteiabzeichen am Revers. Er schaute sich im Geschäft, im Kühlschrank und in den Regalen um. „Aus gesundheitlichen Gründen ist es nicht vertretbar, daß Lebensmittel und Seifenwaren im Laden verkauft werden“, sagte der Mann.
Warum jetzt nach so vielen Jahren?
In den kommenden Tagen ließ mein Vater ein Regal vom Tischler mit Glasscheiben verkleiden, hinter denen künftig die Seifenartikel angeboten wurden.
Im Januar 1955 erschienen erneut zwei Männer im graublauen Anzug vom Gewerbeaufsichtsamt im Geschäft. Nun sollte die Sache mit den Glasscheiben nicht mehr ausreichend sein. Einige Tage später verlegten meine Eltern die Küche hinter den Verkaufsraum in eine Kammer. Jetzt wurden die Seifenartikel im Extraraum angeboten. Schließlich waren wir auf sie angewiesen.
Es war Sommer 1956 geworden, als zum dritten Mal zwei Herren im graublauen Anzug mit Parteiabzeichen im Laden uns mitteilten, daß uns die Konzession für die Seife aus hygienischen Gründen entzogen worden sei. Das war die Strafe für den Wahlsonntag. Manchmal ist das so im Leben, da hat man ein Spiel, eine Auseinandersetzung einfach verloren, und man sieht die Gegner als Sieger davonziehen.
Am Abend sprach Willy Brandt, der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses und späterer Regierender Bürgermeister von Westberlin im RIAS zu den Berlinern. Er bedeutete damals den Ost-Berlinern sehr viel, sie setzten große Hoffnungen auf ihn. Abends im Bett sagte Oma zu mir: „Du wirst sehen Krinele, dieser Mann wird uns mal die Wiedervereinigung bringen.“

Weil unseren Eltern in ihrem Geschäft immer weniger Waren zugeteilt wurden, hatten sie ihren Laden 1957 aufgegeben, und unser Vater arbeitete jetzt in Westberlin als billige und willige Arbeitskraft. Das war nach dem Viermächteabkommen erlaubt, nur in der DDR nicht erwünscht. Es war eine schreckliche Arbeit, die er dort verrichtete, denn er kochte hier Kohlenanzünder, die aus Sägemehl und Naphthalin gefertigt wurden. Das staubte fürchterlich, und er stank permanent nach Mottenpulver. Aber das Geld, das er für diese schmutzige Arbeit bekam, stank nicht, denn es war Westgeld. Wir konnten es in Ostmark für das Vierfache eintauschen und durften offiziell in Westberlin einkaufen.
1961 führte neben den vielen Republikflüchtlingen gerade die Tatsache, daß immer mehr Ostberliner und Leute aus dem Umland in Westberlin arbeiteten und in der DDR großer Fachkräftemangel herrschte, zum Bau der Mauer.

Sie haben durchgehalten, meine Eltern, es gab noch viele andere Schikanen. Ende Juli 1961, zwei Wochen vor dem Mauerbau, sind sie mit uns vier Kindern und Oma über West-Berlin nach Westdeutschland geflüchtet, und Vater schmunzelte oft, denn er war den Männern in den graublauen Anzügen, den Männern mit den Parteiabzeichen, noch rechtzeitig entkommen. Daß wir weg waren, hatten sie erst gemerkt, als die Grenzen schon dicht waren. Aber das ist eine andere Geschichte. Das erste Mal wählte ich in München. Und als ich vor dem kleinen Tischchen, hinter der Verkleidung in der Wahlkabine stand, mußte ich daran denken, was mein Vater uns immer über freie und geheime Wahlen erzählt hatte. Und ich empfinde es noch heute als etwas ganz Besonderes und durchaus nicht Selbstverständliches, wenn ich dann meine Kreuzchen machen kann. Für dieses Wahlrecht hatte meine Vater große Schwierigkeiten auf sich genommen.
Oma hat die Wiedervereinigung nicht mehr erlebt, sie hat auch Berlin und einige ihrer Enkelkinder nicht mehr wiedergesehen. Am Tag, als Willy Brandt Bundeskanzler wurde, hat sie einige Freudentränen vergossen.
Mutter starb 1990. Sie hat die Wende geistig nicht mehr mitbekommen. Mein Vater reiste zwischen 1990 und 1993 mehrmals nach Berlin. Er ist immer wieder zwischen dem ehemaligen Ost- und West-Berlin hin- und hergefahren. Der alte Mann hat glücklich wie ein Kind die Stadt ohne Mauer genossen.
„Siehste, Karin“, sagte er, „jetzt gibt es auch hier freie Wahlen.
„Nur viele gehen nicht hin“, antwortete ich.


Aus "Im Konsum gibts Bananen" l zum Shop »

Buchtipps

zur Übersicht Reihe Zeitgut
Buchcover Reihe Zeitgut Band 31
Im Konsum gibts Bananen
Alltagsgeschichten aus der DDR
1946–1989
Mehr erfahren »
Unsere Heimat - unsere Geschichten Band 30. Unsere Heimat - unsere Geschichten. Wenn Erinnerungen lebendig werden. Rückblenden 1921 bis 1980
Mehr erfahren »
Als wir Räuber und Gendarm spielten Band 29. Als wir Räuber und Gendarm spielten. Erinnerungen von Kindern an ihre Spiele. 1930-1968
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Trümmerkinder" Band 28. Trümmerkinder
Erinnerungen 1945-1952
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Kriegskinder erzählen" Band 27. Kriegskinder erzählen
Erinnerungen 1939-1945 
Mehr erfahren »
zum Shop
Klick zum Buch "Späte Früchte" Florentine Naylor
Späte Früchte für die Seele
Gedanken, die das Alter erquicken
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Momente des Erinnerns" Momente des Erinnerns
Band 3. VorLesebücher für die Altenpflege
Mehr erfahren »

Navigationsübersicht / Sitemap

zum Shop  |   Bestellen  |   Gewinnen  |   Termine  |   Leserstimmen  |   Wir über uns  |   Lesecke
Modernes Antiquariat  |   Flyer  |   Plakate  |   Schuber  |   Lesezeichen  |   Postkarten  |   Aufsteller  |   Videoclip  |   Dekohilfe  |   Anzeigen

Themen