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Wir Kinder vom Lande
Unvergessene Dorfgeschichten. Band 6

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Bildquelle Anne-Liese Peters
Pfingsten 1951: In der dritten Reihe von vorn läuft Anne-Liese Peters kleiner Bruder Klaus-Peter, dahinter ihre Schwester Rose-Marie. Der kleine Tempo-Bus war das Lieferauto von dem Milchmann Willers aus Hittfeld, der mit Milchprodukten, Brot und Lebensmitteln über die Dörfer fuhr.

Geschichte von Anne-Liese Peters aus "Wir Kinder vom Lande"


Pfingstbräuche
Eddelsen, Gemeinde Seevetal, Niedersachsen; 1951

In den fünfziger Jahren hatte es unsere Flüchtlingsfamilie geschafft, in Eddelsen mit dem Bau eines eigenen Siedlungshauses eine neue Heimat zu finden. Hier wurde zu Pfingsten von den Kindern des Dorfes der alte Brauch des „Pingsgaw“ gepflegt, mit Liedern von Haus zu Haus zu ziehen und dafür mit kleinen Gaben belohnt zu werden. Auch meine Geschwister und ich waren mit Begeisterung dabei. Zuvor waren einige Vorbereitungen erforderlich. So übten wir fleißig Frühlings- und Maienlieder ein – ganz besonders aber das „Pingstgaw“-Lied, von dem es im Landkreis unterschiedliche Versteile gab. Mir und den anderen Flüchtlingskindern fiel der in plattdeutscher Sprache gesungene Reim gar nicht so leicht:

Pingstgaw, Habergarf, Bokwetenstroh,
dusend Joahr, noch mal wedder so,
dibe, dibe, dib, 
oh, wat ne bunte Mutz heff ick.
Arfenbusch und Bohnenstaken,
morgen wüllt we den Pingstgaw kaken,
wüllt mit de Ben in de Luken haken.
Geld in de Mutz, dat wer hübsch,
Eier in’ Haut, dat lett gaut. Hurra, vivat!*)

Am Pfingstsonntag ging es morgens los; alle waren aufgeregt, und die Großen mußten die Kleinen bei Laune halten. Wir Kinder trugen Blumenkränze im Haar und hatten unsere Sonntagskleidung an, die wir mit selbstgebastelten bunten Papierrosetten geschmückt hatten. Ein Kind aus unserer Mitte war zuvor als „Pingsbötel“ gewählt worden und trug einen aus frischen Birkenzweigen und Blumen gebunden großen Kranz über der Schulter.
Mit einem Handkarren, in dem meistens der Pingsbötel saß, machten wir uns auf den Weg. Die größeren Kinder zogen den Wagen und trugen den Henkelkorb, in dem die erhofften Geschenke ihren Platz finden sollten. Vor jeder Haustür stellten wir uns nach der Größe auf und sangen Frühlingslieder. Wenn die Tür geöffnet wurde, was fast immer der Fall war, erklang aus unseren Kinderderkehlen das „Pingstgaw“-Lied. Wir wurden mit Eiern, Bonbons, Schokolade und auch Geld belohnt, bevor wir singend zum nächsten Haus gingen.
Selten kam es vor, daß eine Tür nicht geöffnet wurde, aber auch für diesen Fall gab es ein Lied:

Rull, rull, rull, 
dat ole Wief is dull, 
witten Twirn und swatten Twirn, 
dat öle Wif, dat giwt nich girn.*)

Wenn wir durch alle Straßen und Wege Eddelsens gezogen waren, gingen wir glücklich und zufrieden heim. Jetzt saßen die Jüngsten im Wagen, denn es war doch eine große Wegstrecke zurückgelegt worden. Zum Schluß wurden alle Gaben unter den Kindern gerecht aufgeteilt, und jeder zog beglückt nach Hause, um dort erschöpft aber fröhlich von dem ereignisreichen Tag zu berichten.
Unser „Pingsgaw“ war einer von einer Vielzahl von Frühlings- und Pfingstbräuchen. Jedes Jahr wechselte dabei die Anzahl der Kinder, weil die Älteren ausschieden und neue hinzukamen. Aber etwa 15 Jungen und Mädchen waren wir immer, wobei wir Flüchtlingskinder überwogen. Ich möchte sogar behaupten, zur Ausführung der schönen, alten Sitte waren wir sehr wichtig und voll integriert in die Gemeinschaft des Dorfes. Es war eine beschauliche und fröhliche Zeit; alles war selbstgemacht und förderte das gute Miteinander. Immer wird sie für mich eine schöne Erinnerung bleiben.

Leider gibt es bei uns seit Jahrzehnten keine Pfingstumzüge mehr. In der Nähe von Eddelsen, beim Tostedter Schützenverein wird noch heute der Brauch gepflegt, am Pfingstsonntag ein Frühstück für die Schützen und ihre Damen zu geben. Wer als Letzter kommt, wird „Pingsbötel“ („Bötel“ ist der verschnittene Schafsbock, boteln = kastrieren) und muß sich bekränzen lassen und einen geschmückten Hut aufsetzen.  

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*) Ins Hochdeutsche „übersetzt“ reimt sich manches nicht so schön:

Pfingstochse, Hafergarbe, Buchweizenstroh,
tausend Jahre, noch mal wieder so. 
Dibe, dibe dib, 
oh, was für ‘ne bunte Mütze habe ich.
Erbsenbusch und Bohnenstöcke,
morgen wollen wir den Pfingstochsen kochen, 
wollen mit den Beinen aus der Bodenluke baumeln.
Geld in die Mütze, das wäre hübsch,
Eier in den Hut, das wäre gut. Hurra, vivat!


Rull, rull, rull, das alte Weib ist doll.
Weißen Zwirn und schwarzen Zwirn,
das alte Weib, das gibt nicht gern.

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