Bild: zeitgut Buchcover
Zwei deutsche Lebenswege zwischen Diktatur und Demokratie
Hannelore Grimm
Armin Mruck

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Hannelore Grimm
1942, mitten im Krieg, macht Hannelore Grimm das Abitur. Nach Ableisten des Reichsarbeitsdienstes und des Kriegshilfsdienstes begann sie auf Wunsch des Vaters eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Möser bei Magdeburg, Ende 1944
Hannelore Grimm

Ich bin Krankenschwester in einem Lazarett im Osten. Die Front rückt immer näher...

„Alle Betten sind belegt! Wir können nicht aufnehmen!“ Überall werden Betten dazwischen geschoben, Nebenräume werden belegt, zuletzt die Gänge. Ich bin nicht mehr eine Schwester, die einen Namen hat, es wird gerufen, geschrien, gestöhnt: „Schwester!“ Der geordnete Versorgungsablauf bricht zusammen, es geht nunmehr um die Erstversorgung der neu eingelieferten Patienten. Sie kommen fast alle mit Gasbrand; es wird amputiert, die im OP können es kaum bewältigen. Ein Verwundeter will mir etwas ins Ohr flüstern, er sagt: „Meine Mutter sagte immer "Butzerchen zu mir.“ Ich nenne ihn „mein Butzerchen“, er lächelt und stirbt. So, wie die Verwundeten reduziert sind auf ihre Verletzungen, so sind wir auf den Begriff „Schwester“ reduziert. Ich fühle mich wie ein Handlanger zwischen Hölle und Himmel. Es wird immer chaotischer - und dann kommt der Aufruf zur Flucht.

Der letzte Zug soll uns und eine Wöchnerinnenstation aufnehmen. Wir helfen beim Transport aller Verwundeten zum Bahnhof. Dort wird der Zug von der Zivilbevölkerung belagert, jeder will die Stadt verlassen. Trotz militärischer Abschirmung geht dies nicht kampflos ab, Menschen schreien, fallen, werden zertrampelt. Nur mit aufgepflanztem Bajonett abgeschirmt gelingt uns das Einsteigen. Wütend hat die Menge einen Teil der Waggonfenster zerschlagen. Wir schreiben 1945, es ist Januar und wir haben 28° C Kälte. Sieben Tage sind wir mit diesem Zug unterwegs, mehrmals unter Tieffliegerbeschuss. In Pritzwalk laden wir die Toten aus. Wir hungern und frieren. Als wir in Bad Kleinen ankommen, steht das Rote Kreuz am Bahnsteig mit einem Kessel dampfender Erbsensuppe. Wir schlürfen diese Suppe aus Pappbechern. Ich kann nicht beschreiben, wie das schmeckt!

Wir kommen nach Lübeck zum Einsatz. Gemessen an unseren Erfahrungen herrscht hier noch eine himmlische Ordnung. Es ist zwar auch eine zerbombte Stadt, es fehlt an Hilfskräften, es gibt viele Mängel, aber das Krankenhaus funktioniert noch. Das Kriegsende ist in Sicht. Einmal werde ich zum Nachtdienst eingeteilt, muss zusätzlich noch eine neue Station übernehmen und stehe vor einem Krankenbett mit einem jungen Soldaten, dem es sehr schlecht geht. Nach der Zeit, die hinter mir liegt, gehen bei mir alle Alarmsirenen an und ich kann nur mit aller Entschiedenheit denken: „Nein, nicht schon wieder, nein!“ Die letzten Ereignisse geschahen immer in einer Art kollektiver Verantwortung, jetzt habe ich plötzlich eine lastenschwere Eigenverantwortung. Der diensthabende Nachtarzt ist nicht zu erreichen und ich fühle mich in einer Ausnahmesituation. Das ist so, als ob sich dein ganzes Sein auf einen Punkt konzentriert, du entwickelst Kraft und Entschlossenheit. Der junge Soldat ist in Westpreußen verwundet worden und ist auf dem Seeweg nach Lübeck gekommen. Er ist auch innerlich reduziert auf die Hoffnung zu überleben. Die Intensität dieser menschlichen Begegnung ist ein einmaliges Erlebnis für die weitere Entwicklung. Jeder für sich ist durch eine Hölle gegangen, die weit über das seelische Fassungsvermögen eines jungen Menschen hinausgeht. Diese Ratlosigkeit, diese Hoffnungslosigkeit, diese Mutlosigkeit. Diese Verfassung teilen wir miteinander und ich darf aktiv an seiner allmählichen Genesung teilhaben. Durch das Radio hören wir am 30. April 1945 gemeinsam: „Der Führer, heldenhaft gegen die Rotarmisten kämpfend, ist gefallen.“ Das ist wie eine Erlösung. Den Namen dieses Soldaten vergesse ich nicht, er heißt Armin Mruck.
Wir schreiben das Jahr 2004. Ich bin 80 Jahre alt und sitze mit Kindern und Enkeln um einen Tisch und wir erzählen von früheren Zeiten. Ich erzähle ihnen gerade diese Geschichte, nenne diesen Namen. Da steht mein Sohn auf und geht an den Computer. Nach einer Weile kommt er wieder und sagt:„In Deutschland gibt es 78 Menschen mit diesem Namen, aber keiner hat den Vornamen Armin". „Schade“, denke ich, „es war ein Versuch.“ Das Ergebnis lässt meinem Sohn jedoch keine Ruhe und er surft im Internet, dann kommt er freudig erregt: „Ich glaube, ich hab ihn! Professor Dr. Armin Mruck, Baltimore, USA, Reisterstown. Ob er das sein könnte?“ Mein Sohn sagt: „Schick ihm eine E-Mail und frage ihn, dann weißt du es.“ Das sagt sich so einfach.
Nach fast 50 Jahren
Nachdem das Schicksal Hannelore Grimm und den verwundeten Soldaten Armin Mruck 1945 im Lazarett zusammengeführt hatte, kam es 2004 in Berlin zu einem Wiedersehen. Hannelore Grimm mitte und rechts Armin Mruck.

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