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Geschichte "Autofahren 1927" aus dem Buch "Zwischen Kaiser und Hitler"
Buchcover
Zwischen Kaiser und Hitler
Kindheit in Deutschland 1914-1933

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Brennabor 1913
So ein Auto kaufte Studienrat Freisenhausen, der Vater von Liesel Hünichen, 1927

Autofahren 1927 (gekürzte Fassung)
Dülmen, Kreis Coesfeld, Nordrhein-Westfalen

Es war schon eine Sensation, daß meine Mutter als erste Frau im Kreis Coesfeld einen Führerschein besaß. Die Einwohner unserer Stadt rissen Mund und Nase auf, als sie die ersten Male, mit Vati neben sich, im Zehn-Kilometer-Tempo durch die Straßen „brauste“. Wie festgenagelt standen unsere Dülmener am Straßenrand, und ich weiß noch genau, wie peinlich meiner Mutter das war.

Unser Auto war ein „Brennabor“ und dunkelgrün. Die Marke gibt es schon lange nicht mehr, sie ist irgendwann in der „Autounion“ aufgegangen. Natürlich war das Auto nicht neu; so viel Geld verdiente ein Studienrat mit drei Kindern nicht. Es war fünf Jahre alt und preiswert erworben, außer uns besaßen damals nur die drei Textilfabrikanten, der Arzt Dr. Sievers und der Tierarzt Dr. Püttmann ein Auto.
Mehrere Monate zuvor durfte ich mit Dr. Püttmann und Sohn Rudi mit der Pferdekutsche in die Bauernschaft fahren. Während wir auf den Vater warteten – wir durften nicht mit in den Stall –, erhielt ich von Rudi den ersten Aufklärungsunterricht. Er erklärte mir zu meiner großen Verblüffung, daß die Kälber im Bauch der Kuh stecken und eben jetzt von seinem Vater herausgezogen würden. Ich konnte das nicht glauben, traute mich aber nicht, meine Eltern danach zu fragen. Kurze Zeit später hatten Püttmanns einen nagelneuen Opel. Bei unserem ersten gemeinsamen Autoausflug gelang es meinem Vater bei einer leichten Steigung sogar, den neuen Opel zu überholen. Unser „Brennabor“ hatte es bergauf auf fast 55 km/h gebracht. Wir bildeten uns auf unsere Rekordleistung etwas ein, aber nur im stillen.

In der Stadt war man sowieso der Ansicht, ein Studienrat als Autobesitzer müsse größenwahnsinnig sein. Und erst eine Frau am Steuer – das war schlechterdings widernatürlich! Auf Vatis Wunsch hin hatte meine Mutter passend zum Auto ihre langweilig strenge Frisur mit dem braven Nackenknoten durch eine moderne Kurzhaar-Dauerwellfrisur ersetzt und war urplötzlich in eine moderne Frau verwandelt, was aber leider nur kurze Zeit vorhielt.Bevor die Eltern aber fahren durften, mußten sie eine Fahrprüfung ablegen; die gab es damals bereits. Ein Prüfer kam eigens angereist, um meine Eltern und noch zwei weitere Fahrschüler, Ärzte aus dem Kreisgebiet, zu prüfen. Fahrunterricht hatte ihnen Heini Tork erteilt. Er war der Hausmeister unseres Gymnasiums, Schuldiener oder Pedell hieß das damals. Es muß ihm ein wahres Vergnügen bereitet haben, einen Schulmeister seines Gymnasiums mit Doktortitel zu belehren, und Heini erfuhr, zumindest bei meinen Eltern, eine enorme Aufwertung seiner Persönlichkeit. ...
Eine Autowerkstatt gab es noch nicht, doch die Fahrprüfung verlangte Motorkenntnisse‚ die unser Hausmeister offenbar kenntnisreich vermittelte, denn nie fiel jemand durch. Mein Vater behauptete zwar hinterher, „seine Hanni“ habe vom Motor und der Technik nicht das mindeste begriffen, was auch ganz und gar überflüssig sei; denn dafür sei schließlich er zuständig. Offenbar war der Prüfer der gleichen Meinung. Nach der Schilderung meines Vaters mußten die Herren nacheinander um etliche Ecken fahren, eine Zündkerze auswechseln, eine Schraube anziehen und – was ich auch bis heute nicht fertigbringe – ein Rad wechseln.
Meine „technisch unbegabte Mutter“, so das Urteil meines Vaters, brauchte nichts dergleichen zu tun. Sie wurde mit liebenswürdigem Lächeln und der freundlichen Feststellung bedacht: „Ich weiß, gnädige Frau, Sie können das!“
Sie muß jedenfalls sehr sachverständig gelächelt haben.

Für uns drei Kinder begann nun eine herrliche Zeit. Mit dem Auto fuhren wir bei schönem Wetter an die Stever. Sie ist ein Nebenfluß der Lippe. Bevor man sie begradigte und sie zwang, den großen Halterner Stausee zu füllen, war sie ein munterer kleiner Fluß mit vielen Windungen, tiefen und flachen Stellen, weißen Sandbänken am Ufer voller Flußmuscheln und Enten im Schilf.
Einmal im Frühling hatte sich der idyllische Fluß in einen reißenden Strom verwandelt. Die angrenzenden Wiesen waren alle überschwemmt und hatten sich zu einem See ausgedehnt, der bis zu der ländlichen Gastwirtschaft reichte, vor der wir im Sommer nach dem Schwimmen unter den Bäumen saßen und Zitronenbrause tranken. Brause gab es zu Hause nie. Sie ist für mich mit der Erinnerung herrlicher Sommertage am Fluß verbunden. Wir lernten dort nämlich schwimmen mit Hilfe eines alten, mehrfach geflickten Autoreifens und unserer Mutter, die eine gute Schwimmerin war, äußerst ungewöhnlich für die damalige Zeit.
Am Ufer des Flusses wurden zwischen drei Bäumen Bindfäden gespannt, Bettücher darübergelegt und zu Badekabinen umfunktioniert. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, sich ungeniert im Freien aus- und anzuziehen; das war ganz und gar unschicklich. Um unsere Körper schlodderten dünne baumwollene Schwimmanzüge, die bis zum Knie reichten. Besonders modisch, aber um so scheußlicher waren die in breiten, einem Zebra ähnlichen, schwarz-weißen Querstreifen. ...

Eines Tages gerieten wir auf dem Weg nach Münster in einen Gewitterregen und mußten, vollkommen durchnäßt, mitten auf der Landstraße anhalten. Das Regenverdeck, das ziehharmonikagefaltet hinter den Rücksitzen auflag, klemmte und wollte sich nicht hochklappen lassen. Die Eltern und wir Kinder zerrten, zogen und schoben und waren alle klitschnaß, ehe die Plane die Sitze bedeckte. ...
Das Spannendste aber war unsere erste Fahrt zu Tante Lene nach Werne im Herbst. Als wir auf der Landstraße eine tiefliegende‚ von Bächen durchflossene Wiesenlandschaft durchfuhren, befanden wir uns plötzlich in dichtem Nebel! Es war nichts mehr zu sehen. Begrenzungspfähle gab es noch nicht, und die Apfelbäume jenseits der Straßengräben ließen sich nur erahnen. Entgegenkommende Autos fürchteten wir eigentlich weniger als die Pferdefuhrwerke der Erntewagen. Mutti stieg aus und kontrollierte die Lampen. Sie waren im Nebel kaum zu sehen, die Hupe nicht zu hören.
Die Lösung sah schließlich so aus: Mutti marschierte drei Meter vorneweg und schwenkte unsere große Stabtaschenlampe im Kreise, wir Kinder wurden aufgefordert, mit unseren Augen angestrengt die Dunkelheit zu durchdringen und in Intervallen Kreischtöne auszustoßen, um entgegenkommende Radfahrer, Fußgänger, Pferdefuhrwerke zu warnen bzw. uns vor ihnen zu schützen. Wir atmeten alle befreit auf, als wir die Nebelwand hinter uns gelassen hatten und unbeschadet bei Tante Lene angekommen waren.
Der Brennabor ist unser einziges Auto geblieben. Nachdem die gemütliche Familienkutsche nach drei oder vier Jahren ihren Geist aufgegeben hatte und unser Fachmann Heini Tork keine Reparaturmöglichkeit mehr sah, haben sich meine Eltern einen solch ausgefallenen Luxus kein zweites Mal geleistet. Er ist mein Symbol für unbeschwerte Kindertage geblieben.


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