Buchcober
Leseprobe aus
Barfuß übers Stoppelfeld
Unvergessene Dorfgeschichten
Band 3 und 4. 1918-1968
Zeitgut-Auswahl, 384 Seiten, viele Abbildungen
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-86614-213-8

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Krieg und Ziegen

Fotoquelle Falco Berg
Falko Berg 1948 kurz nach dem Abschied vom Dorf mit einer "Box"-Kamera, die er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte, um ihn über seinen Abschiedsschmerz hinwegzutrösten.
von Falko Berg (gekürzte Fassung)

Hebel, Gemeinde Wabern, Nordhessen; 1943/1944

Der Vater war für Falko aufgrund seiner Kriegsteilnahme und späteren Gefangenschaft bis zu seiner Heimkehr 1947 ein Unbekannter. An ihn erinnerte am Eßtisch der leere Stuhl links neben der Mutter. Sein Platz wurde stets mit aufgedeckt, damit niemand vergaß, daß er eigentlich dahin gehörte.

Aber der Krieg erreichte das Dorf 1943/44 auch auf andere, grausame Weise. Immer öfter hörte Falko von Frauen, deren Männer, von Müttern, deren Söhne „im Krieg geblieben“ waren oder, wie sich einige der alten Männer im Dorf auszudrücken pflegten, „auf dem Feld der Ehre gefallen waren“. Diese merkwürdigen Umschreibungen waren für ihn genauso verwirrend, wie es die Auskunft gewesen war, sein Vater sei „im Felde“. Er kannte Weizenfelder, Rübenfelder, Kartoffelfelder, aber ein Feld der Ehre kannte er nicht. Warum wurde so ein Aufhebens davon gemacht, wenn jemand gefallen war? Wie oft war er schon gestolpert und hingefallen, um dann wieder aufzustehen.
Oder war dieses „Gefallensein“ etwa vergleichbar mit dem Schicksal der Tochter des Nachbarn, die ein Kind bekommen hatte, ohne daß man wußte, wer der Vater war?

Von ihr wurde im Dorf hinter vorgehaltener Hand getuschelt, sie sei „ein gefallenes Mädchen“. Auf Nachfrage bei der Mutter erfuhr Falko dann, daß das eine mit dem anderen doch nichts zu tun hatte.
Der Großvater gab ihm die angemessene Antwort: „Die Männer, die im Krieg geblieben und gefallen sind, sind tot.“
„Wie tot?“ fragte Falko.
„Eben tot“, sagte der Großvater, „totgeschossen, totgebombt, totgeschlagen, totgestochen, von Minen zerrissen, verbrannt, verblutet  ... eben tot.“
Beide dachten daran, daß auch der Vater „im Krieg bleiben“ könnte. Aber keiner sprach es aus. 

Kassel, die 30 Kilometer entfernte Bezirkshauptstadt, war im Oktober 1943 durch einen Großangriff alliierter Bomber-Verbände in Schutt und Asche gelegt worden. Während der Sommermonate kamen jetzt Kinder aus der Stadt ins Dorf. Man nannte das Kinder-Landverschickung. Die Stadtkinder sollten sich auf dem Land erholen und sattessen, was in der Großstadt schon schwierig geworden war. Die meisten von ihnen sahen zum ersten Mal in ihrem Leben eine Kuh, ein Pferd oder ein Schwein.
Für die Dorfkinder kamen sie von einem Stern der Ahnungslosen, und sie nutzten ihre Unwissenheit mit kindlicher Grausamkeit aus, um ihnen ihre scheinbare Überlegenheit zu beweisen. Eine der beliebtesten Übungen war das Zielpinkeln auf einen stromführenden Weidezaun. Die Methode, die Weideflächen für das Vieh mit einem elektrischen Draht zu begrenzen, war neu und wurde nur von einem besonders fortschrittlichen Viehzüchter angewandt. Erst nach dem Krieg setzte sie sich allmählich gegen die herkömmliche Stacheldrahtumzäunung durch. Sie hatte viele Vorteile. Sie war billiger, der Draht konnte problemlos und schnell verlegt werden, und die Tiere waren nicht verletzungsgefährdet. Wenn sie ein- oder zweimal mit ihren feuchten Mäulern den stromführenden Draht berührt hatten, blieb ihnen der unangenehme, aber harmlose Schlag so in Erinnerung, daß sie zukünftig respektvoll Abstand hielten.
Selbstverständlich wußte der Junge aus der Stadt, der gerade als Opfer auserwählt wurde, nicht, daß der Draht elektrisch geladen war. Man ließ ihn in dem Glauben, es handle sich lediglich um eine Markierung zur Abgrenzung der Grundstücke. Der Wettbewerb ging nun darum, herauszufinden, wer es als erster aus einiger Entfernung schaffte, beim Pinkeln im großen Bogen mit seinem Strahl den Draht zu treffen. Natürlich war stets der Junge aus der Stadt der unglückselige „Sieger“. Während die Dörfler ihren Strahl kurz vor dem Ziel versickern ließen, erreichten die ahnungslosen Jungs aus der Stadt immer eine hundertprozentige Trefferquote. Aber zu welchem Preis!
Wenn sie dann mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengekrümmtem Körper einen beachtlichen Luftsprung machten, ertönte das schadenfrohe Gelächter ihrer heimtückischen Peiniger.

Bei einer anderen Schandtat machte Bernd Falko zu seinem Komplizen. Auf dem Kirchner-Hof, den Bernd später einmal erben sollte, befand sich während der Ferien ein Exemplar der Gattung landverschickter Kinder, das auf die Jungen aus dem Dorf besonders provozierend wirkte. Der blasse, schmächtige, brillentragende Knabe war stets städtisch adrett mit weißem Hemd und gebügelter Hose gekleidet, hatte Angst vor allen Tieren und vermied es peinlichst, mit Schmutz in Berührung zu kommen, was auf einem Bauernhof ein Ding der Unmöglichkeit ist. Diesem Männlein mußte eine Lektion erteilt werden.
Bernd hatte bereits einen Plan ausgeheckt. Er weihte Falko ein und überließ es diesem wegen seiner besseren hochdeutschen Ausdrucksfähigkeit, dem Stadtkind die Sache schmackhaft zu machen. Froh darüber, sich diesmal bei den Tätern zu befinden und nicht, wie sonst häufig, bei Bernds Späßen Opfer zu sein, rief Falko den Jungen, er hieß Hermann, zu sich und erklärte ihm, man müsse eine Ziege vom Bock decken lassen, damit sie bald Zicklein werfen könne. Heute sei dafür der richtige Zeitpunkt. Der Bock befinde sich beim Nachbarn. „Du brauchst nur die Ziege auf den Nachbarhof zu führen. Dort rufst du nach Frau Griese und sagst ihr: ,Der Bernd schickt mich, die Ziege muß zum Bock‘. Alles andere macht dann die Frau Griese. Du mußt nur darauf achten, daß die Ziege mit dem Hinterteil zum Bock steht.“
„Aber warum soll ich das tun?“ fragte Hermann abweisend. „Das kann doch einer von euch machen. Ihr kennt euch doch da viel besser aus.“
Falko hatte diese Reaktion erwartet.
„Ja, weißt du“, sagte er mit leicht drohendem Vibrieren in der Stimme, „Bernd und ich müssen den Schweinestall ausmisten. Wenn du Bernd lieber dabei helfen willst ...“
Er ließ den Satz unvollendet über Hermann schweben, der schaudernd die unausgesprochenen Übel, die ihm widerfahren würden, erahnte. Mit Bernd, diesem überlegenen Quälgeist alleine im Schweinestall! Bei dieser Drecksarbeit, wo man sich bestimmt ganz schmutzig machte!
Nein, nur das nicht!
In seiner ausweglosen Lage wählte er die scheinbar weniger unangenehme Aufgabe und erklärte sich zähneknirschend bereit, die Sache mit der Ziege zu übernehmen. Also wurde dem Tier ein Strick um den Hals gebunden, das freie Ende Hermann in die Hand gedrückt und ihm bedeutet, sich damit auf den Weg zu machen. Das aber erwies sich als gar nicht so einfach. Der unerfahrene Ziegenführer wurde ganz erheblich irritiert durch einen scharfen, beißenden Geruch, der von seinem Begleiter ausging. Um es ohne Umschweife zu sagen, das Tier stank ganz fürchterlich!
Außerdem dachte es nicht im Traum daran, sich brav an der Leine führen zu lassen. Vielmehr bewegte es sich in Intervallen von unterschiedlicher Dauer und Geschwindigkeit vorwärts und rückwärts. Mal stand es still und war weder durch Zerren am Strick, noch durch Schläge dazu zu bringen, sich fortzubewegen, dann wieder machte es gewaltige Bocksprünge. Der arme Hermann wurde mehr geführt, als daß er führte. ...

Endlich schaffte er es irgendwie, den Nachbarhof mit dem ihm anvertrauten Tier zu erreichen. Wie ihm geheißen, rief er laut nach Frau Griese.
Die alte Dame, die nach einiger Zeit, in schweren Holzpantinen langsam schlurfend, in gebückter Haltung erschien, war halb blind und fast taub. Wie Falko und Bernd natürlich ausgekundschaftet hatten, war sie allein zu Hause. Die jungen Leute waren auf dem Feld. Hermann versuchte, ihr zu erklären, worum es ging. Er erntete als Antwort aber nur ein heiser geknirschtes „Hä?“ der alten Bäuerin, wobei sie unmißverständlich die gekrümmte rechte Hand an ihre Ohrmuschel hielt und den Jungen mit der Ziege mit ihren schwachen Augen blinzelnd musterte. Dieser wiederholte, so laut er konnte: „Ich soll die Ziege zum Bock bringen.“
Frau Griese murmelte ein paar unverständliche Worte in ihren Damenbart, hatte aber offensichtlich verstanden und schickte sich an, den Ziegenbock aus dem Stall zu holen.
Kurz darauf kam ein, wie Hermännchen tief erschrocken wahrnahm, riesiger weißer Blitz aus der Stalltür hervorgeschossen und stürzte sich mit gesenktem Kopf, die spitzen Hörner voran, auf die vermeintlich arme Ziege.
Oh Gott“, dachte der Junge, „dieses Untier stinkt ja noch entsetzlicher und ist noch wilder als das andere. Was soll ich nur tun?“
Aber er kam gar nicht dazu, irgend etwas zu tun. Denn nun geschah das Unerwartete: Auch das hierher verschleppte Tier senkte die hornbewehrte Stirn und erwartete mit wildrollenden Augen den Angriff des Platzhalters. Beim unvermeidbaren Zusammenstoß der beiden Streithammel krachte es, wie wenn zwei Bretter mit aller Wucht gegeneinander geschlagen werden. Davon unbeeindruckt, nahmen die Tiere erneut ihre Kampfposition ein und musterten sich wutschnaubend.

Hermann hatte längst die Leine und damit die Kontrolle über seine Ziege verloren. Aber nun stürzte sich die alte Frau Griese mit einer Behendigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte, dazwischen. Den von ihr, weiß Gott, oft genug miterlebten Deck-Vorgang hatte sie anders in Erinnerung.
Auch Hermann ahnte dumpf, daß hier etwas schief lief. Also versuchten die alte Frau und der Junge aus der Stadt mit vereinten Kräften, die zur Mutterschaft bestimmte Ziege in die richtige Position – Hinterteil voraus – zu bringen und gleichzeitig die tückischen Angriffe des Bockes abzuwehren. Umsonst – alle Versuche, die Tiere zu einem Benehmen zu veranlassen, wie man es von einem Hochzeitspaar erwarten konnte, scheiterten kläglich. Statt sich zu lieben, suchten sie immer wieder den Kampf.

Plötzlich schwante Großmutter Griese, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Ihre Augen waren zu schwach, um sich von der Richtigkeit ihres Verdachtes zu überzeugen. Darum faßte sie der vermeintlichen Ziege vom Kirchner-Hof mit festem, sicheren Griff zwischen die Hinterbeine, lachte schrill auf und verkündete mit laut scheppernder Altweiberstimme: „Ach herrje, s’ is ja selber ’n Bock!“
Darauf brach sie in schallendes Gelächter aus, das in Hermanns Ohren klang wie das Gemecker einer ganzen Ziegenherde. Langsam wurde ihm klar, daß man ihn hundsgemein reingelegt hatte. Mit schamrotem Gesicht zerrte er den widerstrebenden, lebendigen Beweis seiner Schande zum Ausgangspunkt seiner mißglückten Mission zurück, wo ihn die feixenden Gesichter der Verursacher seiner Blamage erwarteten. Bernd hatte sogar noch die Stirn, ihn scheinheilig zu fragen: „Na, alles in Ordnung?“
Hermann würdigte den Bösewicht keines Blickes und keines Wortes. ...
Der arme Hermann wurde für den Rest seiner Ferien auf dem Lande unentwegt als „der Stadtjunge, der den Bock zum Bock gebracht hat“, gehänselt.

Falko aber, der ein mitfühlendes Herz hatte und sah, wie Hermann litt, begann, sich seiner unrühmlichen Anstifterrolle zu schämen. Um Wiedergutmachung bemüht, wich er ihm fortan nicht mehr von der Seite und wurde dessen Beschützer gegenüber allzu frechen Quälgeistern, die seine Fäuste fürchten lernten.


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