
Leseprobe aus
Barfuß übers Stoppelfeld
Unvergessene Dorfgeschichten
Band 3 und 4. 1918-1968
Zeitgut-Auswahl, 384 Seiten, viele Abbildungen
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-86614-213-8
zum Shop »
Unvergessene Dorfgeschichten
Band 3 und 4. 1918-1968
Zeitgut-Auswahl, 384 Seiten, viele Abbildungen
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Krieg und Ziegen

Falko Berg 1948 kurz nach dem Abschied vom Dorf mit einer "Box"-Kamera, die er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte, um ihn über seinen Abschiedsschmerz hinwegzutrösten.
von Falko Berg (gekürzte Fassung)
Hebel, Gemeinde Wabern, Nordhessen; 1943/1944
Der Vater war für Falko aufgrund seiner Kriegsteilnahme undspäteren Gefangenschaft bis zu seiner Heimkehr 1947 ein Unbekannter. An ihnerinnerte am Eßtisch der leere Stuhl links neben der Mutter. Sein Platz wurdestets mit aufgedeckt, damit niemand vergaß, daß er eigentlich dahin gehörte.
Aber der Krieg erreichte das Dorf 1943/44 auch auf andere,grausame Weise. Immer öfter hörte Falko von Frauen, deren Männer, von Müttern, derenSöhne „im Krieg geblieben“ waren oder, wie sich einige der alten Männer im Dorfauszudrücken pflegten, „auf dem Feld der Ehre gefallen waren“. Diesemerkwürdigen Umschreibungen waren für ihn genauso verwirrend, wie es dieAuskunft gewesen war, sein Vater sei „im Felde“. Er kannte Weizenfelder,Rübenfelder, Kartoffelfelder, aber ein Feld der Ehre kannte er nicht. Warumwurde so ein Aufhebens davon gemacht, wenn jemand gefallen war? Wie oft war erschon gestolpert und hingefallen, um dann wieder aufzustehen.
Oder war dieses „Gefallensein“ etwa vergleichbar mit demSchicksal der Tochter des Nachbarn, die ein Kind bekommen hatte, ohne daß manwußte, wer der Vater war?
Von ihr wurde im Dorf hinter vorgehaltener Hand getuschelt,sie sei „ein gefallenes Mädchen“. Auf Nachfrage bei der Mutter erfuhr Falkodann, daß das eine mit dem anderen doch nichts zu tun hatte.
Der Großvater gab ihm die angemessene Antwort: „Die Männer,die im Krieg geblieben und gefallen sind, sind tot.“
„Wie tot?“ fragte Falko.
„Eben tot“, sagte der Großvater, „totgeschossen, totgebombt,totgeschlagen, totgestochen, von Minen zerrissen, verbrannt, verblutet ... eben tot.“
Beide dachten daran, daß auch der Vater „im Krieg bleiben“könnte. Aber keiner sprach es aus.
Kassel, die 30 Kilometer entfernte Bezirkshauptstadt,war im Oktober 1943 durch einen Großangriff alliierter Bomber-Verbände inSchutt und Asche gelegt worden. Während der Sommermonate kamen jetzt Kinder ausder Stadt ins Dorf. Man nannte das Kinder-Landverschickung. Die Stadtkindersollten sich auf dem Land erholen und sattessen, was in der Großstadt schonschwierig geworden war. Die meisten von ihnen sahen zum ersten Mal in ihremLeben eine Kuh, ein Pferd oder ein Schwein.
Für die Dorfkinder kamen sie von einem Stern derAhnungslosen, und sie nutzten ihre Unwissenheit mit kindlicher Grausamkeit aus,um ihnen ihre scheinbare Überlegenheit zu beweisen. Eine der beliebtestenÜbungen war das Zielpinkeln auf einen stromführenden Weidezaun. Die Methode,die Weideflächen für das Vieh mit einem elektrischen Draht zu begrenzen, warneu und wurde nur von einem besonders fortschrittlichen Viehzüchter angewandt.Erst nach dem Krieg setzte sie sich allmählich gegen die herkömmlicheStacheldrahtumzäunung durch. Sie hatte viele Vorteile. Sie war billiger, derDraht konnte problemlos und schnell verlegt werden, und die Tiere waren nichtverletzungsgefährdet. Wenn sie ein- oder zweimal mit ihren feuchten Mäulern denstromführenden Draht berührt hatten, blieb ihnen der unangenehme, aber harmloseSchlag so in Erinnerung, daß sie zukünftig respektvoll Abstand hielten.
Selbstverständlich wußte der Junge aus der Stadt, der geradeals Opfer auserwählt wurde, nicht, daß der Draht elektrisch geladen war. Manließ ihn in dem Glauben, es handle sich lediglich um eine Markierung zurAbgrenzung der Grundstücke. Der Wettbewerb ging nun darum, herauszufinden, weres als erster aus einiger Entfernung schaffte, beim Pinkeln im großen Bogen mitseinem Strahl den Draht zu treffen. Natürlich war stets der Junge aus der Stadtder unglückselige „Sieger“. Während die Dörfler ihren Strahl kurz vor dem Zielversickern ließen, erreichten die ahnungslosen Jungs aus der Stadt immer einehundertprozentige Trefferquote. Aber zu welchem Preis!
Wenn sie dann mit schmerzverzerrtem Gesicht undzusammengekrümmtem Körper einen beachtlichen Luftsprung machten, ertönte dasschadenfrohe Gelächter ihrer heimtückischen Peiniger.
Bei einer anderen Schandtat machte Bernd Falko zu seinemKomplizen. Auf dem Kirchner-Hof, den Bernd später einmal erben sollte, befandsich während der Ferien ein Exemplar der Gattung landverschickter Kinder, dasauf die Jungen aus dem Dorf besonders provozierend wirkte. Der blasse,schmächtige, brillentragende Knabe war stets städtisch adrett mit weißem Hemdund gebügelter Hose gekleidet, hatte Angst vor allen Tieren und vermied espeinlichst, mit Schmutz in Berührung zu kommen, was auf einem Bauernhof einDing der Unmöglichkeit ist. Diesem Männlein mußte eine Lektion erteilt werden.
Bernd hatte bereits einen Plan ausgeheckt. Er weihte Falkoein und überließ es diesem wegen seiner besseren hochdeutschenAusdrucksfähigkeit, dem Stadtkind die Sache schmackhaft zu machen. Frohdarüber, sich diesmal bei den Tätern zu befinden und nicht, wie sonst häufig,bei Bernds Späßen Opfer zu sein, rief Falko den Jungen, er hieß Hermann, zusich und erklärte ihm, man müsse eine Ziege vom Bock decken lassen, damit siebald Zicklein werfen könne. Heute sei dafür der richtige Zeitpunkt. Der Bockbefinde sich beim Nachbarn. „Du brauchst nur die Ziege auf den Nachbarhof zuführen. Dort rufst du nach Frau Griese und sagst ihr: ,Der Bernd schickt mich,die Ziege muß zum Bock‘. Alles andere macht dann die Frau Griese. Du mußt nurdarauf achten, daß die Ziege mit dem Hinterteil zum Bock steht.“
„Aber warum soll ich das tun?“ fragte Hermann abweisend.„Das kann doch einer von euch machen. Ihr kennt euch doch da viel besser aus.“
Falko hatte diese Reaktion erwartet.
„Ja, weißt du“, sagte er mit leicht drohendem Vibrieren inder Stimme, „Bernd und ich müssen den Schweinestall ausmisten. Wenn du Berndlieber dabei helfen willst ...“
Er ließ den Satz unvollendet über Hermann schweben, derschaudernd die unausgesprochenen Übel, die ihm widerfahren würden, erahnte. MitBernd, diesem überlegenen Quälgeist alleine im Schweinestall! Bei dieserDrecksarbeit, wo man sich bestimmt ganz schmutzig machte!
Nein, nur das nicht!
In seiner ausweglosen Lage wählte er die scheinbar wenigerunangenehme Aufgabe und erklärte sich zähneknirschend bereit, die Sache mit derZiege zu übernehmen. Also wurde dem Tier ein Strick um den Hals gebunden, dasfreie Ende Hermann in die Hand gedrückt und ihm bedeutet, sich damit auf denWeg zu machen. Das aber erwies sich als gar nicht so einfach. Der unerfahreneZiegenführer wurde ganz erheblich irritiert durch einen scharfen, beißendenGeruch, der von seinem Begleiter ausging. Um es ohne Umschweife zu sagen, dasTier stank ganz fürchterlich!
Außerdem dachte es nicht im Traum daran, sich brav an derLeine führen zu lassen. Vielmehr bewegte es sich in Intervallen vonunterschiedlicher Dauer und Geschwindigkeit vorwärts und rückwärts. Mal standes still und war weder durch Zerren am Strick, noch durch Schläge dazu zubringen, sich fortzubewegen, dann wieder machte es gewaltige Bocksprünge. Derarme Hermann wurde mehr geführt, als daß er führte. ...
Endlich schaffte er es irgendwie, den Nachbarhof mit dem ihmanvertrauten Tier zu erreichen. Wie ihm geheißen, rief er laut nach FrauGriese.
Die alte Dame, die nach einiger Zeit, in schwerenHolzpantinen langsam schlurfend, in gebückter Haltung erschien, war halb blindund fast taub. Wie Falko und Bernd natürlich ausgekundschaftet hatten, war sieallein zu Hause. Die jungen Leute waren auf dem Feld. Hermann versuchte, ihr zuerklären, worum es ging. Er erntete als Antwort aber nur ein heisergeknirschtes „Hä?“ der alten Bäuerin, wobei sie unmißverständlich die gekrümmterechte Hand an ihre Ohrmuschel hielt und den Jungen mit der Ziege mit ihrenschwachen Augen blinzelnd musterte. Dieser wiederholte, so laut er konnte: „Ichsoll die Ziege zum Bock bringen.“
Frau Griese murmelte ein paar unverständliche Worte in ihrenDamenbart, hatte aber offensichtlich verstanden und schickte sich an, denZiegenbock aus dem Stall zu holen.
Kurz darauf kam ein, wie Hermännchen tief erschrockenwahrnahm, riesiger weißer Blitz aus der Stalltür hervorgeschossen und stürztesich mit gesenktem Kopf, die spitzen Hörner voran, auf die vermeintlich armeZiege.
Oh Gott“, dachte der Junge, „dieses Untier stinkt ja nochentsetzlicher und ist noch wilder als das andere. Was soll ich nur tun?“
Aber er kam gar nicht dazu, irgend etwas zu tun. Denn nungeschah das Unerwartete: Auch das hierher verschleppte Tier senkte diehornbewehrte Stirn und erwartete mit wildrollenden Augen den Angriff desPlatzhalters. Beim unvermeidbaren Zusammenstoß der beiden Streithammel krachtees, wie wenn zwei Bretter mit aller Wucht gegeneinander geschlagen werden.Davon unbeeindruckt, nahmen die Tiere erneut ihre Kampfposition ein undmusterten sich wutschnaubend.
Hermann hatte längst die Leine und damit die Kontrolle überseine Ziege verloren. Aber nun stürzte sich die alte Frau Griese mit einerBehendigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte, dazwischen. Den von ihr, weißGott, oft genug miterlebten Deck-Vorgang hatte sie anders in Erinnerung.
Auch Hermann ahnte dumpf, daß hier etwas schief lief. Alsoversuchten die alte Frau und der Junge aus der Stadt mit vereinten Kräften, diezur Mutterschaft bestimmte Ziege in die richtige Position – Hinterteil voraus –zu bringen und gleichzeitig die tückischen Angriffe des Bockes abzuwehren.Umsonst – alle Versuche, die Tiere zu einem Benehmen zu veranlassen, wie man esvon einem Hochzeitspaar erwarten konnte, scheiterten kläglich. Statt sich zulieben, suchten sie immer wieder den Kampf.
Plötzlich schwante Großmutter Griese, daß hier etwas nichtmit rechten Dingen zuging. Ihre Augen waren zu schwach, um sich von derRichtigkeit ihres Verdachtes zu überzeugen. Darum faßte sie der vermeintlichenZiege vom Kirchner-Hof mit festem, sicheren Griff zwischen die Hinterbeine,lachte schrill auf und verkündete mit laut scheppernder Altweiberstimme: „Achherrje, s’ is ja selber ’n Bock!“
Darauf brach sie in schallendes Gelächter aus, das inHermanns Ohren klang wie das Gemecker einer ganzen Ziegenherde. Langsam wurdeihm klar, daß man ihn hundsgemein reingelegt hatte. Mit schamrotem Gesichtzerrte er den widerstrebenden, lebendigen Beweis seiner Schande zumAusgangspunkt seiner mißglückten Mission zurück, wo ihn die feixenden Gesichterder Verursacher seiner Blamage erwarteten. Bernd hatte sogar noch die Stirn,ihn scheinheilig zu fragen: „Na, alles in Ordnung?“
Hermann würdigte den Bösewicht keines Blickes und keinesWortes. ...
Der arme Hermann wurde für den Rest seiner Ferien auf demLande unentwegt als „der Stadtjunge, der den Bock zum Bock gebracht hat“,gehänselt.
Falko aber, der ein mitfühlendes Herz hatte und sah, wieHermann litt, begann, sich seiner unrühmlichen Anstifterrolle zu schämen. UmWiedergutmachung bemüht, wich er ihm fortan nicht mehr von der Seite und wurdedessen Beschützer gegenüber allzu frechen Quälgeistern, die seine Fäustefürchten lernten.
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Hebel, Gemeinde Wabern, Nordhessen; 1943/1944
Der Vater war für Falko aufgrund seiner Kriegsteilnahme undspäteren Gefangenschaft bis zu seiner Heimkehr 1947 ein Unbekannter. An ihnerinnerte am Eßtisch der leere Stuhl links neben der Mutter. Sein Platz wurdestets mit aufgedeckt, damit niemand vergaß, daß er eigentlich dahin gehörte.
Aber der Krieg erreichte das Dorf 1943/44 auch auf andere,grausame Weise. Immer öfter hörte Falko von Frauen, deren Männer, von Müttern, derenSöhne „im Krieg geblieben“ waren oder, wie sich einige der alten Männer im Dorfauszudrücken pflegten, „auf dem Feld der Ehre gefallen waren“. Diesemerkwürdigen Umschreibungen waren für ihn genauso verwirrend, wie es dieAuskunft gewesen war, sein Vater sei „im Felde“. Er kannte Weizenfelder,Rübenfelder, Kartoffelfelder, aber ein Feld der Ehre kannte er nicht. Warumwurde so ein Aufhebens davon gemacht, wenn jemand gefallen war? Wie oft war erschon gestolpert und hingefallen, um dann wieder aufzustehen.
Oder war dieses „Gefallensein“ etwa vergleichbar mit demSchicksal der Tochter des Nachbarn, die ein Kind bekommen hatte, ohne daß manwußte, wer der Vater war?
Von ihr wurde im Dorf hinter vorgehaltener Hand getuschelt,sie sei „ein gefallenes Mädchen“. Auf Nachfrage bei der Mutter erfuhr Falkodann, daß das eine mit dem anderen doch nichts zu tun hatte.
Der Großvater gab ihm die angemessene Antwort: „Die Männer,die im Krieg geblieben und gefallen sind, sind tot.“
„Wie tot?“ fragte Falko.
„Eben tot“, sagte der Großvater, „totgeschossen, totgebombt,totgeschlagen, totgestochen, von Minen zerrissen, verbrannt, verblutet ... eben tot.“
Beide dachten daran, daß auch der Vater „im Krieg bleiben“könnte. Aber keiner sprach es aus.
Kassel, die 30 Kilometer entfernte Bezirkshauptstadt,war im Oktober 1943 durch einen Großangriff alliierter Bomber-Verbände inSchutt und Asche gelegt worden. Während der Sommermonate kamen jetzt Kinder ausder Stadt ins Dorf. Man nannte das Kinder-Landverschickung. Die Stadtkindersollten sich auf dem Land erholen und sattessen, was in der Großstadt schonschwierig geworden war. Die meisten von ihnen sahen zum ersten Mal in ihremLeben eine Kuh, ein Pferd oder ein Schwein.
Für die Dorfkinder kamen sie von einem Stern derAhnungslosen, und sie nutzten ihre Unwissenheit mit kindlicher Grausamkeit aus,um ihnen ihre scheinbare Überlegenheit zu beweisen. Eine der beliebtestenÜbungen war das Zielpinkeln auf einen stromführenden Weidezaun. Die Methode,die Weideflächen für das Vieh mit einem elektrischen Draht zu begrenzen, warneu und wurde nur von einem besonders fortschrittlichen Viehzüchter angewandt.Erst nach dem Krieg setzte sie sich allmählich gegen die herkömmlicheStacheldrahtumzäunung durch. Sie hatte viele Vorteile. Sie war billiger, derDraht konnte problemlos und schnell verlegt werden, und die Tiere waren nichtverletzungsgefährdet. Wenn sie ein- oder zweimal mit ihren feuchten Mäulern denstromführenden Draht berührt hatten, blieb ihnen der unangenehme, aber harmloseSchlag so in Erinnerung, daß sie zukünftig respektvoll Abstand hielten.
Selbstverständlich wußte der Junge aus der Stadt, der geradeals Opfer auserwählt wurde, nicht, daß der Draht elektrisch geladen war. Manließ ihn in dem Glauben, es handle sich lediglich um eine Markierung zurAbgrenzung der Grundstücke. Der Wettbewerb ging nun darum, herauszufinden, weres als erster aus einiger Entfernung schaffte, beim Pinkeln im großen Bogen mitseinem Strahl den Draht zu treffen. Natürlich war stets der Junge aus der Stadtder unglückselige „Sieger“. Während die Dörfler ihren Strahl kurz vor dem Zielversickern ließen, erreichten die ahnungslosen Jungs aus der Stadt immer einehundertprozentige Trefferquote. Aber zu welchem Preis!
Wenn sie dann mit schmerzverzerrtem Gesicht undzusammengekrümmtem Körper einen beachtlichen Luftsprung machten, ertönte dasschadenfrohe Gelächter ihrer heimtückischen Peiniger.
Bei einer anderen Schandtat machte Bernd Falko zu seinemKomplizen. Auf dem Kirchner-Hof, den Bernd später einmal erben sollte, befandsich während der Ferien ein Exemplar der Gattung landverschickter Kinder, dasauf die Jungen aus dem Dorf besonders provozierend wirkte. Der blasse,schmächtige, brillentragende Knabe war stets städtisch adrett mit weißem Hemdund gebügelter Hose gekleidet, hatte Angst vor allen Tieren und vermied espeinlichst, mit Schmutz in Berührung zu kommen, was auf einem Bauernhof einDing der Unmöglichkeit ist. Diesem Männlein mußte eine Lektion erteilt werden.
Bernd hatte bereits einen Plan ausgeheckt. Er weihte Falkoein und überließ es diesem wegen seiner besseren hochdeutschenAusdrucksfähigkeit, dem Stadtkind die Sache schmackhaft zu machen. Frohdarüber, sich diesmal bei den Tätern zu befinden und nicht, wie sonst häufig,bei Bernds Späßen Opfer zu sein, rief Falko den Jungen, er hieß Hermann, zusich und erklärte ihm, man müsse eine Ziege vom Bock decken lassen, damit siebald Zicklein werfen könne. Heute sei dafür der richtige Zeitpunkt. Der Bockbefinde sich beim Nachbarn. „Du brauchst nur die Ziege auf den Nachbarhof zuführen. Dort rufst du nach Frau Griese und sagst ihr: ,Der Bernd schickt mich,die Ziege muß zum Bock‘. Alles andere macht dann die Frau Griese. Du mußt nurdarauf achten, daß die Ziege mit dem Hinterteil zum Bock steht.“
„Aber warum soll ich das tun?“ fragte Hermann abweisend.„Das kann doch einer von euch machen. Ihr kennt euch doch da viel besser aus.“
Falko hatte diese Reaktion erwartet.
„Ja, weißt du“, sagte er mit leicht drohendem Vibrieren inder Stimme, „Bernd und ich müssen den Schweinestall ausmisten. Wenn du Berndlieber dabei helfen willst ...“
Er ließ den Satz unvollendet über Hermann schweben, derschaudernd die unausgesprochenen Übel, die ihm widerfahren würden, erahnte. MitBernd, diesem überlegenen Quälgeist alleine im Schweinestall! Bei dieserDrecksarbeit, wo man sich bestimmt ganz schmutzig machte!
Nein, nur das nicht!
In seiner ausweglosen Lage wählte er die scheinbar wenigerunangenehme Aufgabe und erklärte sich zähneknirschend bereit, die Sache mit derZiege zu übernehmen. Also wurde dem Tier ein Strick um den Hals gebunden, dasfreie Ende Hermann in die Hand gedrückt und ihm bedeutet, sich damit auf denWeg zu machen. Das aber erwies sich als gar nicht so einfach. Der unerfahreneZiegenführer wurde ganz erheblich irritiert durch einen scharfen, beißendenGeruch, der von seinem Begleiter ausging. Um es ohne Umschweife zu sagen, dasTier stank ganz fürchterlich!
Außerdem dachte es nicht im Traum daran, sich brav an derLeine führen zu lassen. Vielmehr bewegte es sich in Intervallen vonunterschiedlicher Dauer und Geschwindigkeit vorwärts und rückwärts. Mal standes still und war weder durch Zerren am Strick, noch durch Schläge dazu zubringen, sich fortzubewegen, dann wieder machte es gewaltige Bocksprünge. Derarme Hermann wurde mehr geführt, als daß er führte. ...
Endlich schaffte er es irgendwie, den Nachbarhof mit dem ihmanvertrauten Tier zu erreichen. Wie ihm geheißen, rief er laut nach FrauGriese.
Die alte Dame, die nach einiger Zeit, in schwerenHolzpantinen langsam schlurfend, in gebückter Haltung erschien, war halb blindund fast taub. Wie Falko und Bernd natürlich ausgekundschaftet hatten, war sieallein zu Hause. Die jungen Leute waren auf dem Feld. Hermann versuchte, ihr zuerklären, worum es ging. Er erntete als Antwort aber nur ein heisergeknirschtes „Hä?“ der alten Bäuerin, wobei sie unmißverständlich die gekrümmterechte Hand an ihre Ohrmuschel hielt und den Jungen mit der Ziege mit ihrenschwachen Augen blinzelnd musterte. Dieser wiederholte, so laut er konnte: „Ichsoll die Ziege zum Bock bringen.“
Frau Griese murmelte ein paar unverständliche Worte in ihrenDamenbart, hatte aber offensichtlich verstanden und schickte sich an, denZiegenbock aus dem Stall zu holen.
Kurz darauf kam ein, wie Hermännchen tief erschrockenwahrnahm, riesiger weißer Blitz aus der Stalltür hervorgeschossen und stürztesich mit gesenktem Kopf, die spitzen Hörner voran, auf die vermeintlich armeZiege.
Oh Gott“, dachte der Junge, „dieses Untier stinkt ja nochentsetzlicher und ist noch wilder als das andere. Was soll ich nur tun?“
Aber er kam gar nicht dazu, irgend etwas zu tun. Denn nungeschah das Unerwartete: Auch das hierher verschleppte Tier senkte diehornbewehrte Stirn und erwartete mit wildrollenden Augen den Angriff desPlatzhalters. Beim unvermeidbaren Zusammenstoß der beiden Streithammel krachtees, wie wenn zwei Bretter mit aller Wucht gegeneinander geschlagen werden.Davon unbeeindruckt, nahmen die Tiere erneut ihre Kampfposition ein undmusterten sich wutschnaubend.
Hermann hatte längst die Leine und damit die Kontrolle überseine Ziege verloren. Aber nun stürzte sich die alte Frau Griese mit einerBehendigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte, dazwischen. Den von ihr, weißGott, oft genug miterlebten Deck-Vorgang hatte sie anders in Erinnerung.
Auch Hermann ahnte dumpf, daß hier etwas schief lief. Alsoversuchten die alte Frau und der Junge aus der Stadt mit vereinten Kräften, diezur Mutterschaft bestimmte Ziege in die richtige Position – Hinterteil voraus –zu bringen und gleichzeitig die tückischen Angriffe des Bockes abzuwehren.Umsonst – alle Versuche, die Tiere zu einem Benehmen zu veranlassen, wie man esvon einem Hochzeitspaar erwarten konnte, scheiterten kläglich. Statt sich zulieben, suchten sie immer wieder den Kampf.
Plötzlich schwante Großmutter Griese, daß hier etwas nichtmit rechten Dingen zuging. Ihre Augen waren zu schwach, um sich von derRichtigkeit ihres Verdachtes zu überzeugen. Darum faßte sie der vermeintlichenZiege vom Kirchner-Hof mit festem, sicheren Griff zwischen die Hinterbeine,lachte schrill auf und verkündete mit laut scheppernder Altweiberstimme: „Achherrje, s’ is ja selber ’n Bock!“
Darauf brach sie in schallendes Gelächter aus, das inHermanns Ohren klang wie das Gemecker einer ganzen Ziegenherde. Langsam wurdeihm klar, daß man ihn hundsgemein reingelegt hatte. Mit schamrotem Gesichtzerrte er den widerstrebenden, lebendigen Beweis seiner Schande zumAusgangspunkt seiner mißglückten Mission zurück, wo ihn die feixenden Gesichterder Verursacher seiner Blamage erwarteten. Bernd hatte sogar noch die Stirn,ihn scheinheilig zu fragen: „Na, alles in Ordnung?“
Hermann würdigte den Bösewicht keines Blickes und keinesWortes. ...
Der arme Hermann wurde für den Rest seiner Ferien auf demLande unentwegt als „der Stadtjunge, der den Bock zum Bock gebracht hat“,gehänselt.
Falko aber, der ein mitfühlendes Herz hatte und sah, wieHermann litt, begann, sich seiner unrühmlichen Anstifterrolle zu schämen. UmWiedergutmachung bemüht, wich er ihm fortan nicht mehr von der Seite und wurdedessen Beschützer gegenüber allzu frechen Quälgeistern, die seine Fäustefürchten lernten.
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