Fluchtweg Bulgarien
Helga Priester
Fluchtweg Bulgarien
1963 - Dritter Versuch
104 Seiten, Abbildungen
Sammlung der Zeitzeugen (61),
Zeitgut Verlag, Berlin.
Broschur
ISBN: 978-3-86614-127-8
Euro 6,90
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Inhalt
Fahrt ins Ungewisse • Durchwühlte Koffer • Bulgarische Weisen • Auf der Flucht • Festgenommen • Rosenduft im Stall • Abschied aus Pamporovo • Busfahrt nach Sofia • Lucie aus Syrien • Fideles Gefängnis • »Ein Schiff wird kommen« • Der Brief • Schatten an der Wand • Vier Frauen hinter Gittern • Flug nach Berlin • »Eine Reise ins Glück« • In Einzelhaft • Renate • Sehnsucht nach Bach • Lebendige Mauern • Der Prozess • Knastbetrieb • Mit Abstand betrachtet
Ihre Fragen beantwortet gern:
Lydia Beier
Öffentlichkeitsarbeit
Zeitgut Verlag GmbH, Berlin
E-Mail: Lydia.beier@zeitgut.com
Tel. 030 - 70 20 93 14
Fax 030 - 70 20 93 22

 

Fluchtweg Bulgarien

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Bibliographische Daten zum Buch
Helga Priester
Fluchtweg Bulgarien
1963 – dritter Versuch.
104 Seiten, zahlreiche Fotos, Broschur.
Sammlung der Zeitzeugen Band 61
Zeitgut Verlag, Berlin, www.zeitgut.com
ISBN 978-3-86614-127-8, EURO 6,90

Kostenfreie Abdrucktexte

Die folgenden Texte aus dem Buch stellen wir Ihnen gern zum kostenfreien Abdruck zur Verfügung. Als Gegenleistung erwarten wir von Ihnen lediglich die Veröffentlichung eines Quellen-Hinweises mit bibliografischen Daten und einem kleinen Buchcover von mindestens 30 mm Breite. Beim Abdruck von Abbildungen zum Text, ist als Quelle „Zeitgut Verlag/Privatbesitz Helga Priester“ anzugeben.  
Zudem bitten wir um ein Belegexemplar. Herzlichen Dank!


Vorwort (3.122 Zeichen)

Helga Priester Diesen bunten Rock trug ich während des Urlaubs und auch später auf der Flucht, bei der wir wie harmlose Spaziergänger wirken wollten.
Meine Fluchtgeschichte begann mit einer Halskette aus getrockneten Maiskörnern, die ich mir nach der damaligen Mode aufgezogen hatte. Im Februar 1963 sprach mich ein Student der Melioration auf einer Party in der Mensa der Rostocker Universität auf diese Kette an. Wir versuchten, miteinander ins Gespräch zu kommen, brachten aber bei der lauten Musik, die zum Twist gespielt wurde, kaum eine Unterhaltung zustande. Eine Sitzgelegenheit konnten wir nicht finden, und das Schwitzwasser tropfte von der Decke.
Max und ich vereinbarten für den folgenden Abend ein Treffen im »Ratsweinkeller«. Bei einer Flasche Sekt lernten wir uns näher kennen und tauschten unsere politischen Ansichten aus: Wir waren mit dem System des Sozialismus nicht einverstanden, wollten nicht länger eingemauert leben, sehnten uns nach Reisefreiheit und Westliteratur.
Bald eröffnete Max mir seinen Plan. Die einzige Möglichkeit, aus der DDR herauszukommen, meinte er, sei eine Auslandsreise nach Südbulgarien, in die Nähe der griechischen Grenze. Der dichte Wald in Bulgarien könne gar nicht lückenlos bewacht werden. Max wirkte so entschlossen, dass ich ihm und seinem Vorhaben Glauben schenkte. Hätten wir geahnt, dass wir die Rückfahrt nach Rostock in der dunklen »Grünen Minna« der Polizei antreten würden – wir hätten die Flucht wohl trotzdem gewagt. Max wollte auswandern und in die Entwicklungsländer gehen, um dort als Agraringenieur zu helfen.
Ich stamme aus Dortmund, meine Großeltern hatten dort ein Haus, das bei einem Bombenangriff auf die Stadt 1943 schwer beschädigt wurde. Als Siebenjährige siedelte ich deshalb mit meinen Eltern in die Heimat meines Vaters um, nach Kühlungsborn an der Ostsee, später zogen wir nach Rostock. Jetzt waren meine Eltern Rentner und hatten die Möglichkeit, Reisepässe zu beantragen und nach Dortmund zurückzugehen. Aber ohne mich, ihre einzige Tochter, wollten sie nicht nach Westdeutschland ziehen.
Von ehemaligen Klassenkameradinnen wusste ich außerdem, dass ihnen die Flucht in die Bundesrepublik geglückt war und sie dort ein neues Leben begonnen hatten. Das motivierte mich zusätzlich. Bereits ein Jahr zuvor hatte ich probiert, über einen Urlaubsplatz in Kuba in den Westen zu gelangen. Ich hatte einen Vetter in Princeton, USA, bei dem ich erst einmal untergekommen wäre. Doch die Kubakrise machte mir einen Strich durch die Rechnung. Die »MS Völkerfreundschaft«, das Urlauberschiff, mit dem ich unterwegs war, hatte nach einem Tag wieder aus Kuba abfahren müssen. Kein einziger Passagier des Schiffes hatte an Land gehen dürfen.
Auch mein anschließender Versuch, über Dänemark in den Westen zu gelangen, missglückte. DDR-Bürger durften zwar mit dem Schiff in den Hafen von Gedser fahren, dort aber nicht von Bord gehen. Ich wollte vom Schiff springen, doch als es anlegte, ahnte ich, dass ein Mann von der Staatssicherheit hinter mir stand. Er hätte mich festgehalten, wenn ich heruntergesprungen wäre.
Dass ich jemanden finden würde, mit dem ich die Flucht gemeinsam riskieren konnte, hatte ich nach den beiden misslungenen Versuchen nicht mehr zu hoffen gewagt – es erschien mir wie ein Wunder.

Ankunft in Sofia Juli 1963
Ankunft der "IL-18" der "Deutschen Lufthansa der DDR" auf dem Flughafen in Sofia, Juli 1963


Auf der Flucht (14.000 Zeichen)

Für Sonntag, den 14. Juli, war in Pamporovo ein großes Bauarbeiterfest geplant, zu dem 3000 Menschen mit Bussen erwartet wurden. Wir beschlossen, unsere Flucht auf diesen Tag zu legen, denn im Trubel des Festes konnten wir am besten ungesehen aus dem Ort verschwinden. Um nicht die belebte Straße Richtung Sneshanka-Gipfel nehmen zu müssen, kundschafteten wir an einem Nachmittag einen kürzeren Trampelpfad über die Wiese aus. Auf halbem Wege beschlossen wir, dass Max allein weiterging. Ich setzte mich inzwischen auf einen Baumstamm und nähte dort einige Stunden lang die Ledertasche für das Fernglas – eine mühsame Arbeit ohne Fingerhut. Auch die letzte Post erledigte ich hier. Ich fürchtete, dass Max zu weit laufen und nicht rechtzeitig zum Abendessen zurückkommen würde. Aber es klappte, wir konnten durch diesen Weg viel Zeit sparen.

Am Sonnabend konnten wir uns nicht so früh von der Reisegruppe zurückziehen; es war Tanz, wir saßen zusammen mit einem Berliner Architektenehepaar am Tisch. Der Mann erzählte uns Mauerwitze und dass sein Sohn aus Westberlin oft zu ihnen herüberwinke. Das hatte mir am letzten Abend gerade noch gefehlt.
Am Sonntagmorgen belegte ich Brote mit dem Dosenfleisch, das wir aus Rostock mitgebracht hatten. Den größten Teil hatte Max bereits vor Stoians Augen aufgegessen. Die leeren Dosen vergruben wir im Wald. Dann ruhten wir uns auf einer Wiese in der Nähe des Hotels aus. Wir hatten alle Sachen gepackt, nahmen aber nur das Nötigste mit, unter anderem meinen Fotoapparat, das Fernglas von Max und einen Kompass. Dazu hatte ich meinen Regenmantel und ein zweites Paar Schuhe für mich, Brot und Schokolade in den Beutel gesteckt – nicht einmal etwas Trinkbares. In den letzten Tagen hatte es oft geregnet, und das gute Rhodopenwasser floss überall in Rinnsalen durch den Wald.
Kurz vor dem Mittagessen überlegten wir, wie wir den vollgepackten Beutel am Empfangschef vorbeitragen konnten, ohne dass dieser ihm auffällt. Ich hing eine Strickjacke lose darüber und trug den Beutel durch die hohe Wiese, in der ich völlig verschwand – so hoch standen Gras und Blumen. Das Gepäck legte ich unter einen Brennnesselbusch. Nun musste das letzte Essen noch schmecken, dann hieß es schnell umziehen.

An diesem 14. Juli, 13.30 Uhr, wollten wir die »Bastille« erstürmen. Der Ort Pamporovo war inzwischen dicht bevölkert, viele Besucher saßen oder lagen auf mitgebrachten Decken und machten Picknick. Einige hatten Laufgitter für ihre Kinder mitgebracht.
Wie geplant, nahmen wir den Weg über die Wiese. Als dieser endete, begann ein sumpfiges Gebiet, das wir auf Baumstämmen überquerten. Dabei rutschte Max ab und beschmierte sich ein Hosenbein seines Sonntagsanzugs mit schwarzem Modder. Der Sonntagsanzug war seine Tarnkleidung, er wollte wie ein harmloser Spaziergänger wirken.

Ohne Aufenthalt ging es schnell weiter über den Sneshanka-Berg, Richtung Sperrgebiet. Am Wege lagerte eine Familie bei ihren Mauleseln und aß zu Mittag. Nach zwei Stunden Marsch gelangten wir zu der Straße, an der die Sperrzone begann. Um von dem Berg herunter auf die Straße zu kommen, mussten wir ein felsiges Gebiet, das teils mit Moos überwachsen war, überklettern. Ich hielt mich an den Tannenzweigen fest, um nicht abzurutschen. Max fiel mehrere Male hin, da er das Gepäck trug und sich nicht festhalten konnte.
Vorsichtig näherten wir uns der Straße. Sie machte jetzt einen Bogen, wir konnten sie nicht richtig einsehen. Als wir fast auf der anderen Seite waren, bemerkten wir in der Kurve zwei Arbeiter beim Straßenbau. Ob sie uns gesehen hatten und uns jetzt verfolgten? Wir wussten, dass sich um den Straßenbau auch Grenzsoldaten kümmerten.
Im Sperrgebiet mussten wir einen steilen Hang hinauf. Einmal hielten wir zwei Minuten an, um neue Kraft zu schöpfen, dann eilten wir weiter. Zwischendurch befragten wir immer wieder den Kompass und tranken aus Rinnsalen. Wie herrlich schmeckte das Rhodopenwasser!

Sobald wir einen Berg erklommen hatten, ging es sofort wieder in ein tiefes Tal hinab und die Kletterei begann von Neuem. Unzählige Bäume mit vielen Ästen lagen kreuz und quer durcheinander. Sie versperrten uns den Weg, oft mussten wir hinübersteigen. Lianen hingen in dicken Büscheln von den Bäumen – ein Urwald ohne Weg und Steg. Wo würden wir landen? Weit und breit war kein Mensch zu sehen.
Plötzlich sah ich, wie sich in zehn Metern Entfernung etwas Weißes bewegte: ein riesiger Hund, der uns hechelnd entgegenlief. Wir kauerten uns nieder, Max holte schnell Brot heraus. Wir fürchteten, dass es ein Grenzhund sei und er sich im nächsten Moment auf uns stürzen würde! Aber oh Wunder, er rannte dicht an uns vorbei, ohne sich um uns zu kümmern. Konnte ich ahnen, dass es nur ein Kuhhund war?
Aus einem Rinnsal trank ich Wasser und entdeckte erst danach, dass viele kleine Tierchen darin schwammen. Da nur wenig Wasser floss, musste ich mich verrenken, um an die schmalen, tief ausgespülten Rinnen zu gelangen. Von dem eiskalten Gebirgswasser, das ich kräftig mit dem Mund ansog, schwollen meine Lippen dick an.

Tiefe Täler wechselten mit steilen, unwegsamen Anstiegen. Eine Anhöhe war bedeckt mit Felsen, zwischen denen Wacholderbüsche entlangkrochen. Wir gingen darauf wie auf einem stechenden Teppich, eine Märchenlandschaft. Immer wieder sauste und knackte es beim Schlucken in meinen Ohren, wir waren in etwa 2000 Meter Höhe, in der Nähe des Perilik.

Allmählich begann die Dämmerung. Gegen 20 Uhr hörten wir ein ständig wiederkehrendes Signal. Sollten wir bereits in der Nähe der Grenze sein? Hatte man uns vielleicht erspäht oder schon alles vom Urlaubsort zur Grenze berichtet? Eine Weile blieben wir flüsternd stehen. Langsam, ohne auf einen Zweig zu treten, schlichen wir weiter. Nach einiger Zeit vermuteten wir, dass es wohl eine Tierstimme gewesen sein musste, vielleicht ein Murmeltier. In einem Tal gelangten wir an einen reißenden, etwa drei Meter breiten Wildbach. Das rauschende Wasser schlug gegen die Felsbrocken. Von Stein zu Stein springend, ging es am Rande des Flussbetts entlang. Seitlich stieg eine steile Böschung an, hin zu einer nur noch schwach erkennbaren Lichtung. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass wir keine zwei Meter weit sehen konnten. Vielleicht war es in dem engen Flusstal auch besonders finster. Ich kroch, mich an Grasbüscheln haltend, auf allen Vieren von einem Büschel zum anderen.
Max lief irgendwo tiefer, er war nicht zu sehen, und wegen des reißenden Stroms konnten wir uns auch nicht verständigen. Meine Angst, dass sich Steine lockern und auf ihn herabfallen konnten! Im Dunkeln kroch ich in ein Gebiet ohne Gras, hier lag nur noch Geröll. Ein Stein, an dem ich mich festhielt, löste sich – oh Schrecken. Ich sauste drei Meter tiefer und stand bis zu den Knöcheln im kalten Wasser.
Außer Abschürfungen an den Armen trug ich zum Glück keine weiteren Blessuren davon. Ein zweites Paar Schuhe hatte ich bei mir; so konnte ich die verschmutzten Schuhe wechseln und nach kurzer Rast weiterklettern. Sollte dies die steile Wand gewesen sein, von der ich vor dem Antritt unserer Bulgarienreise so entsetzlich geträumt hatte? Aber ich bezwang sie; wir gelangten auf eine riesige Wiese, Wetterleuchten erhellte gespenstisch die Umgebung. Als wir seitlich hinunterschauten, entdeckten wir eine erleuchtete Stadt und Straßen. Das musste Smoljan sein, der Grenzort. Mühsam versuchten wir immer wieder, ein Streichholz anzuzünden, um den Kompass zu befragen. Der Wind fegte über die Wiese. Wo mochten wir uns befinden? Vermutlich ganz in der Nähe der Grenze, denn wir überquerten ausgehobene Schützengräben. Das Wetterleuchten und Blitzen über den Bergen von Griechenland nahm zu.
Es begann zu regnen, das fehlte uns gerade noch zu der »wilden Romantik«. Um in Richtung Süden zu gelangen, mussten wir durch ein dichtes, mit kleinen Fichten bestandenes Gebiet mit rutschigen Felsen. Der Regen wurde stärker, wir sahen die Hand vor Augen nicht mehr. Wenn wir uns nicht die Beine brechen wollten – es war inzwischen 23 Uhr geworden –, mussten wir ein Lager aufschlagen und den frühen Morgen erwarten. Wir versteckten uns unter einer dichten Fichtentanne, die etwas Wind und Regen abhielt. Von unten war der Boden noch trocken geblieben. Alle wärmeren Sachen zogen wir über, und mit unserem einzigen Regenmantel deckten wir uns zu, er reichte kaum für uns beide.
Neben entsetzlichem Donnerkrachen unterbrachen laute, wilde Schreie die unheimliche Nacht. Vermutlich trieben Hirten weit unten im Tal Kühe oder Schafe zu einer anderen Weidestelle. Das Kläffen der Hunde ließ nicht nach. Trotz allem konnte ich einige Stunden schlafen, nach den Anstrengungen war ich völlig erschöpft. Der Regen wurde noch stärker und ließ auch morgens nicht nach. Die Tanne hielt nicht mehr dicht, der Regen tropfte laut auf den Mantel.

Gegen 4 Uhr machten wir uns in den klammen, feuchten Kleidern auf den Weg. Aber nun sollten wir noch nasser werden, das hohe Kraut und Gras reichte bis an unsere Knie. Wenn wir die Tannen streiften, die nur zwei bis drei Meter hoch waren, tropfte es wieder. In den Schuhen quatschte das Wasser, am Regenmantel lief es hinunter und fing sich in den langen Hosen und dem Rocksaum. Doch wir liefen uns warm.
Von einer freien Stelle aus hatten wir eine unvergleichliche Fernsicht gen Süden auf die weiten griechischen Berge. Wo mochten wir sein? Nachts hatten wir schon vermutet, dass die eigenartigen Schreie von griechischen Hirten stammten. Für kurze Zeit hatten wir uns eingebildet, vielleicht bereits die Grenze überschritten zu haben. Wer wusste, ob sie überhaupt gekennzeichnet war?
Nach und nach kamen wir vom Urwald in eine zivilisiertere Gegend, wir sahen die ersten Wege. Wir suchten nach altem bedruckten Papier, um erkennen zu können, in welchem Land wir waren. Nachdem wir einen steilen Hang herunterkamen, mussten wir wieder über eine freie Wiese. Davor fürchteten wir uns jedes Mal, ahnten wir doch nie, von welcher Seite wir beobachtet werden konnten. Erst im dichten Wald fühlten wir uns wieder sicherer.
Nach langem Marsch erreichten wir ein Tal mit einem zwei Meter breiten Gebirgsfluss. Laut Karte musste er vertikal auf die Grenze zulaufen. Wir nahmen einen kräftigen Schluck Rhodopenwasser und aßen die Tafel Schokolade, die wir im Gepäck hatten. Zuvor hatte ich mich hauptsächlich von frischen Tannenspitzen ernährt. Max wollte kein Brot nehmen, er meinte, ich solle nur essen, er wolle es noch aufsparen. Am Flüsschen entlang führte auf beiden Seiten steil ein Weg die Bergwände hoch. Links vor uns entdeckten wir eine kleine zerfallene Holzhütte. Darin konnten wir nach Schrift suchen – und wirklich: In das Holz waren Buchstaben geschnitzt. Aber bulgarische. Unsere Hoffnung, bereits über der Grenze zu sein, schwand dahin. Als wir weitergingen, entdeckte Max eine Straße, davor stand ein Verbotsschild.
»Wieso ist hier mitten im Wald eine Straße?«, wunderten wir uns und wurden sehr vorsichtig.
Wir gingen nicht an die Straße heran, sondern steuerten rechts davor schnell auf den nächsten Berg zu, um die Gegend von oben einsehen zu können.
Max lief weit voraus, wir waren auf einem steilen, vom Regen ausgewaschenen Weg. Dazwischen lagen große Felsen mit kleinen Kuhlen, in denen das frische Regenwasser stand. Daraus ließ sich besonders gut trinken, und ich nutzte die vielen Gelegenheiten. Als wir von oben in die Ferne sehen konnten, entdeckten wir mit dem Fernglas auf dem Höhenzug, der sich parallel hinter der Straße befand, einzelne Gebäude und einen Aussichtsturm. Dazwischen war die Landschaft bewaldet. Das musste die Grenze sein. Wir wollten sie bis zum Abend mit dem Fernglas beobachten. Menschen waren bis auf einen Posten auf dem Turm nicht zu sehen. Im Hellen wollten wir auf keinen Fall darauf zugehen.

Mehrere Stunden gingen wir parallel zur Grenze entlang – immer in der Deckung der Bäume. Einmal sahen wir in unserer Nähe Kühe, eine war ausgebrochen und kam plötzlich durch das Holz geknackt. Voller Angst saßen wir unter kleinen Tannen und krochen immer weiter in Deckung. Die Kuh rannte aber schnell bergab, hielt sich nicht lange in unserer Nähe auf. Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen, und die heiße Sonne meinte es wieder gut mit uns.
Wir gelangten in ein kleines Flusstal. Über dem Fluss lag quer ein dicker Baumstamm. Hier konnten wir Strümpfe waschen, unsere Schuhe und die blauen Farmerhosen trocknen. Wir breiteten die Sachen aus; in der Hitze trockneten sie sehr schnell, wir konnten darauf warten. Jetzt hieß es: ausruhen, schlafen, sonnen und für den Endspurt frische Kräfte sammeln.

Nachmittags gingen wir weiter. Wir kamen in eine unübersichtliche Gegend, in der wir nicht mehr wussten, in welcher Richtung die Grenze verlief. Auf dem Berg waren wir im Kreis gelaufen, ohne es bemerkt zu haben. Verzweifelt befragten wir immer wieder den Kompass. Jetzt mussten wir noch stundenlang sitzen und warten, bis die Dunkelheit anbrach.
Gegen Abend setzte der Regen erneut ein und es wurde erheblich kälter, wir konnten Handschuhe gebrauchen. Wir mussten an derjenigen Stelle sein, an der die bulgarisch-griechische Grenze am weitesten nach Bulgarien hineinreicht.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Grenze hier nicht noch dichter bewacht wurde als anderswo. Ob wir nicht doch weitergehen sollten bis dorthin, wo die Grenze nicht so weit nach Bulgarien hineinreicht?
Max meinte, dass wir dann noch zwei Tage länger unterwegs wären. Im Dunkeln könnten wir durch den dichten Tannenwald ungesehen die 300 Meter Höhe überwinden. Am meisten fürchtete ich mich dort vor Hunden. Die Wartezeit bis es dunkel wurde, war endlos – diese Spannung.
Im Schummerlicht, gegen 20.30 Uhr, gingen wir langsam den Berg hinunter. Vorsichtig, ohne auf knackende Zweige zu treten, näherten wir uns der Straße. Zehn Meter entfernt setzten wir uns hinter einen Baum und beobachteten von dort aus eine halbe Stunde lang die Straße: Fahren Autos, gehen Postenstreifen entlang? Aber alles blieb ruhig, wir konnten nichts hören und sehen, nur das Rauschen eines Baches, den wir durchqueren mussten.
Helga Priester mit Bergbauern Auf einem Spaziergang kam ich ins Gespräch mit zwei Kuhhirten. Sie notierten meine Adresse, damit ich ihnen Fotos schicken konnte.
Bergwelt Rhodopen
Über diese Berge des Rhodopengebirges kletterten wir bei unserem Versuch, über die bulgarisch-griechische Grenze zu gelangen.


Festgenommen (5.769 Zeichen)

Im Versteck Im Versteck unter einer Fichtentanne.
Gegen 21 Uhr sagt Max entschieden: »Jetzt gehen wir los.« Vollkommen dunkel ist es noch nicht, etwa fünf Meter weit können wir sehen. Wenn es erst richtig dunkel ist, können wir die Hand vor Augen nicht erkennen und ohne Lichtquelle nicht weitergehen. Der Kompass leuchtet im Dunkeln nicht genug, er braucht erst Licht durch ein Streichholz. Das können wir aber nicht benutzen, wenn wir nicht auffallen wollen.
Eine kleine Böschung also hinunter auf die Straße, vorher nehme ich noch eine Beruhigungstablette. Auf der Straße wenden wir uns nach links, da sie von einer Holzbrücke unterbrochen wird, der Fluss ist auf die andere Straßenseite geleitet. Wir laufen eine Minute auf der Straße entlang und gelangen auf die Brücke, um von dort aus in den Wald zu schleichen, als wir zwei Posten in großen Regenumhängen erkennen. Die Straße macht einen Knick, daher tauchen sie plötzlich aus dem Dunkeln auf. Sie kommen schreiend auf uns zu und richten ihre Gewehre auf uns. Als ich sie entdecke, springe ich zur Seite, vielleicht schaffe ich es noch in den Busch. Aber Max ruft schon: »Bleib stehen!«

Alles ist aus. Die Posten schreien: »Bagasch« (Gepäck ablegen!). Ich werfe meine Sachen auf den Boden. So stehen wir da, mit erhobenen Armen, einen furchtbaren Augenblick lang. Die Posten zielen aus zwei Metern Entfernung mit den Gewehren auf uns. Sie wissen nicht, ob wir bewaffnet sind.
Schließlich nehmen sie unser Gepäck, einer der Posten geht voran, das Gewehr schussbereit in seinen Händen, der zweite läuft hinter uns. Wir stapfen, die Arme auf dem Rücken, zwischen ihnen durch Dunkelheit und Pfützen. Versuche ich einmal, eine Pfütze seitlich zu umgehen, beginnen sie zu schreien. Sie befürchten, dass ich mich doch noch in den Wald absetzen könnte.
Immer wieder brüllen sie uns ins Gesicht: »Graniza« (Grenze) und »Faschism–Sozialism«. Was sie sonst noch rufen, verstehe ich nicht. Andere Soldaten kommen auf Pfiffe seitlich aus den Büschen. Sie fallen sich vor Freude in die Arme. Max hört heraus, dass ihnen als Belohnung für unsere Festnahme ein Urlaub in Varna am Schwarzen Meer in Aussicht steht. Wir verlassen die Straße, es geht den Berg hinauf zum Quartier. Der Anstieg fällt schwer, aber ich darf nicht verschnaufen.
Erschreckend, wie viele Posten aus dem Dickicht gerufen werden. Diese letzte Kette hätten wir nie durchbrechen können. Im Abstand von 500 Metern stehen jeweils zwei Posten. Zwei Offiziere kommen uns entgegen, sie leuchten uns mit Taschenlampen ins Gesicht:

»Helga und Max!«

Ach, könnten wir uns jetzt in Hänsel und Gretel verwandeln! Aber es gibt kein Zurück. Die Grenzer hatten uns schon erwartet, sie waren aus Pamporovo benachrichtigt worden.
Sie leuchten uns den Weg – wie zuvorkommend! Oben angekommen, drängen sie uns durch ein riesiges Tor, auf dem ein Sowjetstern prangt. Unter dem Tor werden Max mehrere Kinnhaken versetzt, er stürzt zur Seite. Ich muss dabei zusehen, bis mich ein Grenzer in den Oberarm kneift und durch das Tor stößt. Ja, ich bin eine große Pech- und keine Goldmarie.
Ich gehe vorweg in ein riesiges Gebäude hinein. In einer großen Empfangshalle stehen hunderte Soldaten mit strahlenden Gesichtern in Reih und Glied zu unserem Empfang. Die Posten tragen weiße Achselhemden; sie grinsen, als wir an ihnen vorbeigehen. Sie bringen uns in ein winziges Zimmer, fünf Offiziere beginnen uns abzutasten und alles aus unseren Hosentaschen auf den Tisch zu legen. In dem Raum stehen ein Drahtbett, eine Liege und ein Schreibtisch. Alle sitzen, nur wir stehen noch mit den Händen auf dem Rücken.
Unheimlich heiß ist es in dem Raum. Nach etwa einer halben Stunde wird Max ganz bleich und setzt sich einfach auf einen Stuhl. Die Offiziere brüllen etwas, aber er bleibt sitzen und verlangt nach Wasser. Das wird uns auch gebracht. Danach fällt uns das Stehen wieder leichter. Ich bin froh, dass Max nicht in Ohnmacht gefallen ist.
Gegen Mitternacht haben sie jede Kleinigkeit durchsucht und aufgeschrieben. Es geht hinaus in einen offenen Jeep. Jeder von uns sitzt zwischen zwei Posten, eine wilde Fahrt beginnt. Der Fahrer jagt den Berg hinunter durch tiefe Schlaglöcher, dass ich oft an die Decke fliege und mir den Kopf stoße. Dann folgt eine halbstündige Fahrt auf der Straße entlang durch den dunklen Wald. Endlich kommen die ersten Baracken, dort fragen die Offiziere nach leeren Zellen für uns. Ergebnislos, alles belegt, die Fahrt geht weiter. Wir müssen in einer größeren Stadt sein. Später erfahre ich, dass es Smoljan ist. Die Posten bringen uns zunächst in eine Halle, in der wir eine Weile warten müssen. Dort erinnere ich mich, wie mir Max  gesagt hatte:
»Sobald du schreiben kannst, soll der erste Brief an deine Eltern gehen.«
Welche Illusion, schreiben kann ich hier doch nicht.

Max wird zuerst wegbefördert, danach führen mich die Posten in ein anderes Gebäude. Es wirkt wie ein Stall, etwa zehn Holztüren sind mit riesigen Schlössern verhängt. Vor einigen Türen stehen Schuhe. Eine dieser Kemenaten wird mir aufgeschlossen.
»Schuhe ausziehen, draußen lassen«, heißt es. Wir hätten uns wohl damit umbringen können.
Hoch über jeder Tür befindet sich ein Drahtgitter, durch das Licht vom Flur in die Zelle fällt. Der Wärter stößt mich hinein.

Auf dem Boden liegt bereits eine schwarzhaarige Frau. Der Wärter sagt etwas zu ihr, sie rückt zur Seite. Die Matratze ist äußerst schmal, wir haben beide gerade Platz, wenn wir nicht auf dem Rücken liegen. Da weiß ich noch nicht, dass neben mir eine Mörderin liegt; sie hat jemanden erstochen. Mehrere Male beobachtet uns der Wärter durch den Spion. Mit meinen Sachen am Leibe – nur die gelbe Strickjacke nutze ich als Kopfkissen – falle ich schnell in einen tiefen Schlaf. Alles um mich herum ist mir egal – nur schlafen können nach diesen beiden Tagen der Anspannung.

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