Leseprobe aus dem Buch:
Wolfgang Balke Wolfgang Balke
Nur nicht mit den Wölfen heulen

Eine Jugend in Neuruppin
1945-1953. Sammlung der Zeitzeugen Band 13
136 Seiten. Broschur
ISBN 978-3-933336-49-1
Mehr erfahren »
 
Familie Balke
Familie Balke im Frühjahr 1947, nach der Rückkehr des Vaters aus amerikanischer Gefangenschaft.
Michail
aus "Nur nicht mit den Wölfen heulen" von Wolfgang Balke

1946 wohnt der neunjährige Wolfgang mit seiner Mutter und den beiden Schwestern in Neuruppin am Paulinenauer Bahnhof

Nach Krischans Abreise hielt die übliche Routine derdamaligen Zeit wieder Einzug in mein Leben: Schlangestehen vor fast leerenLäden, Ähren und Kartoffeln auf abgeernteten Feldern sammeln und ab und zu einkleiner Tausch von Schnaps gegen Lebensmittel mit den Russen aus dernahegelegenen Kaserne.
Darüber hinaus stand ich meiner Mutter zur Seite, wenn siezu verzweifeln drohte. Aber es war nicht nur alles Last und Mühsal, auch kleineFreuden gab es immer wieder. So ging ich beispielsweise häufig mit meinenFreunden im wunderschönen Ruppiner See zum Baden. Aber der Gedanke an dennächsten Winter belastete uns sehr, denn die Versorgungssituation hatte sichbis zum Ende des Sommers 1946 nicht wesentlich verbessert. Unser WohltäterKrischan, der uns so gut über den letzten Winter geholfen hatte, kämpfte jetztsicher mit eigenen Problemen im fernen Sibirien. Es war also für uns an derZeit vorzusorgen.
Damals blockierte gerade eine Holzlieferung der Russenunseren Bahnhof, und bei näherer Betrachtung waren die etwa vier Meter langenTelegrafenmasten genau das, was wir als Heizmaterial für den Küchenherd und fürdie Öfen brauchten. Meine Mutter und unsere Nachbarin Frau Friedrich, eineschmächtige und ängstliche Lehrerwitwe mit sieben Kindern, beschlossen, ineiner der kommenden Neumondnächte unseren Holzvorrat aufzubessern.

Aufgrund der absoluten Dunkelheit war unser nächtlicherHolzdiebstahl zwar gut gedeckt, aber dafür hatte ich Probleme beimWacheschieben. Ich rannte sichernd hin und her, während die Frauen versuchten,einen der schweren Balken in unseren kleinen Schuppen am Bahnsteigende zuwuchten. Frau Friedrich war dabei nicht sehr hilfreich. Sie war einfach zuklein und kraftlos! Auch ich war zu schwach, um tatkräftig zu helfen, und soquälten wir uns Meter für Meter voran. Und dann geschah genau das, was wirvermeiden wollten!Wie aus dem Erdboden gewachsen stand plötzlich ein Riese voruns und fragte: »Was maachen?«
Frau Friedrich ließ sich vor Schreck das Ende desHolzstammes auf den Fuß fallen und fing laut an zu weinen. Meine Mutterversuchte eine Erklärung zu stammeln, und ich war sprachlos und beschämt, weilich als Sicherungsposten so kläglich versagt hatte. Die Frauen begannen eingroßes Jammern, denn wenn auch nur eine von ihnen festgenommen und eingesperrtwürde, müsste die andere sich um zehn Kinder kümmern.
Der Russe hörte sich das Jammern nicht lange an und fragtenur kurz: »Wohin?« Wir verstanden zunächst nicht so recht, aber der Riese wurdeschnell deutlicher: «Wohin wollt ihr Holz haben?«
Das konnte doch fast nicht wahr sein! Aber eigentlich wardie Frage ja eindeutig, und so zeigten wir dem großen Kerl, der inzwischen denHolzstamm schon auf seine Schulter gehievt hatte, den Weg zu unserem etwasechzig Meter entfernt liegenden Schuppen. Dort legte er das Holz ab, holteeinen weiteren Telegrafenmasten und schließlich einen dritten und ließ sich nurmit Mühe bremsen, als er auch den vierten Balken ordentlich im Holzstallverstaut hatte. Dann sagte er freundlich »guten Abend« und verschwand wie ererschienen war, urplötzlich und unerkannt, im Dunkel der Nacht.
Die allgemeine Verblüffung und Erleichterung darüber, daßdiese Geschichte gut ausgegangen war, ließ Frau Friedrich fast ihren inzwischendick angeschwollenen Fuß vergessen. 

Am nächsten Tag stand harte körperliche Arbeit auf demProgramm. Ich mußte mit meiner Mutter das Holz zersägen, allein schon, damit esbei einer möglichen Kontrolle nicht sofort als Diebesgut erkennbar war. Wirbearbeiteten gerade mit unserer stumpfen Säge die Masten, als wir sahen, wieuns ein Russe vom Balkon der Generalsvilla, die auf der anderen Seite der anden Bahnsteig angrenzenden Schrebergartenkolonie lag, zuwinkte. Er war groß,ganz in Weiß gekleidet und offensichtlich der Koch. Als höfliche Menschenwinkten wir zurück.
Wir waren sehr erstaunt, als der Russe wenige Minuten späterbei uns auf dem Bahnsteig erschien und erklärte, daß Holzsägen keine Arbeit fürFrauen und Kinder sei. Er nahm uns die Säge aus den Händen, und mit einigenkraftvollen Sägeschnitten hatte er in wenigen Minuten den langen Balken inkurze Klötze zerteilt. Wir bedankten uns herzlich und wollten uns von ihmverabschieden, damit er nicht merkte, daß es sich um gestohlene russischeTelegrafenmasten handelte. Aber er ließ sich nicht beirren. Er wollte erst nochdie anderen Stämme zersägen. Er habe gerade Zeit, weil der General nicht zuHause sei und er deswegen nicht kochen müsse. Wir stellten uns dumm. AndereStämme? »Du hast noch drei Stämme im Schuppen«, kürzte er die Diskussion ab.»Michail selber gestern abend reingetragen!«
Und damit ging er in den Holzstall und holte sich dennächsten Telegrafenmasten, den er, wie die beiden restlichen, in Rekordzeitzersägte.
Dieser nette Koch war also der Riese vom Abend zuvor. Aufeinen dezenten Wink meiner Mutter hin lief ich in unsere Wohnung und holte eineFlasche Schnaps für ihn, die er sich redlich verdient hatte. Wir waren sehrerstaunt, als er den Schnaps ablehnte. Er trinke nicht, sagte er, aber wenn wirerlaubten, würde er uns gerne einmal besuchen, um mit uns zu sprechen. DieÜberraschungen mit diesem Mann nahmen offensichtlich kein Ende. Meine Mutterlud ihn gerne für den nächsten Tag zum Abendessen ein, wobei sie leiseandeutete, daß er bezüglich des Essens keine allzu großen Erwartungen hegendürfe.
Meine Mutter gab sich große Mühe, den Abendbrottisch etwasfestlich zu gestalten, was unter den gegebenen Umständen gar nicht so einfachwar. Michail erschien pünktlich. Er trug eine blitzsaubere Uniform ohne Orden.Das war eher untypisch. Etwas unpassend zum Erscheinungsbild des korrektgekleideten Soldaten war allerdings das große Bündel aus einemzusammengeknoteten Bettlaken, das er auf dem Rücken trug. Wir waren gespanntauf den Inhalt. Und dann gab es eine verfrühte Weihnachtsbescherung!
Alle guten Dinge dieser Welt, von Schinken über Butter,Wurst und Brot bis zu einer kleinen Büchse Kaviar und zwei Flaschen Wein,ergossen sich auf das Drahtbett, das zugleich als vornehme Couch und alsSitzgelegenheit am Tisch diente. Mit wenigen Handgriffen verwandelte meineMutter den bescheidenen Abendbrotstisch in eine sich von Leckereien biegendeFesttafel. Wir mußten zusammen mit Frau Friedrich, die natürlich aucheingeladen war, erst einmal vor lauter Staunen innehalten. Und bevor wir mit demgroßen Schmaus beginnen konnten, bat Michail, ein Tischgebet sprechen zudürfen. Der Mann war wirklich einmalig!
Nachdem der erste Hunger gestillt war, entwickelte sich einlebhaftes Gespräch, denn natürlich wollten wir uns gegenseitig kennenlernen.Unsere Geschichte war schnell erzählt, und dann berichtete Michail.
Er war 1921 in Petrograd, dem früheren und heutigen SanktPetersburg, geboren und der Sohn eines Professors und einer Opernsängerin.Wegen seiner christlichen Erziehung, und weil die gesellschaftliche Stellungseiner Eltern nicht dem Ideal im kommunistischen Arbeiter- und Bauernstaatentsprach, war ihm der Zugang zu höheren staatlichen Bildungseinrichtungenversagt worden. Er erlernte also den Zimmermannsberuf, studierte aber privatbei befreundeten Professoren Germanistik und Anglistik. 1941 wurde er zumMilitär eingezogen, konnte aber mit Hilfe verständnisvoller Vorgesetztererreichen, daß er als Koch ausgebildet und eingesetzt wurde, weil er denWaffendienst als überzeugter Christ ablehnte. Während des Krieges erlitt erzwei schwere Verwundungen durch deutsche Artillerie, die aber keine bleibendenSchäden bei ihm hinterlassen hatten. Jetzt war er Erster Koch beim General undmit seinem Schicksal weitgehend zufrieden, auch wenn er noch immer von einemakademischen Beruf und einem Leben mit einer großen Familie im fernen SanktPetersburg träumte.
Zu seiner ordensleeren Brust sagte er, daß er ohnehin nurwenige Orden neben der Medaille für die Teilnahme an der Schlacht um Berlinbesitze und daß er die natürlich nicht trage, wenn er bei einer deutschenFamilie zu Besuch sei. Michail war wirklich ein ungewöhnlich sensibler undfeinsinniger Mann.
In kurzer Zeit entwickelte sich zu Michail einfreundschaftliches, ja sogar herzliches Verhältnis. Er wohnte in derGeneralsvilla, also ganz bei uns in der Nähe, und kam in Arbeitspausen odernach Feierabend häufig zu einem kleinen Schwätzchen zu uns. Einmal schleppte ereinen ganzen Sack Erbsen an und fragte uns, was Gänse denn eigentlich sofressen würden. Die Gänse des Generals weigerten sich nämlich standhaft, dieErbsen zu fressen, und deshalb sollten wir sie behalten. Uns war das nur recht!
Manchmal brachte Michail Lebensmittel mit, manchmal nicht.Er wollte nichts von uns haben, und wir hatten keine Forderungen an ihn. Ihmkam es offensichtlich darauf an, von Zeit zu Zeit einmal dem tristenmilitärischen Einerlei und dem Stumpfsinn seiner Arbeit zu entkommen, ein wenigFamilienanschluß zu finden, sein Deutsch aufzubessern und mehr über Deutschlandund seine Menschen zu erfahren. 

Im Winter 1946 klopfte es eines Nachts, so gegen ein Uhr, anunserer Haustür. Ich öffnete – es war Michail. Wortlos ging er an mir vorbei,setzte sich an den Wohnzimmertisch und begann hemmungslos zu weinen. Inzwischenwaren wir natürlich alle aufgewacht und standen hilflos um ihn herum, bisMichail sich faßte und stockend zu reden begann. Er sagte, daß ihm wenige Stunden zuvor seineZwangseinweisung in ein sibirisches Straf- und Arbeitslager eröffnet wordensei, weil er sich aufgrund seiner christlichen Überzeugung wiederholt geweigerthatte, den Kommunismus zu propagieren. Sein Transport sollte in zwei StundenNeuruppin verlassen. Wir waren keines Wortes fähig, bis sich unsere Erstarrungin Tränen löste. Michail übergab uns seine Marschverpflegung, ein Brot, Butterund etwas Wurst. Davon ließ er sich auch durch unsere inständigen Bitten,diesmal an sich selbst zu denken, nicht abbringen. »Ich habe gute Freunde, die mein Schicksal teilen«, sagteer. »Gott wird uns beschützen.« Dann segnete er uns und verschwand für immer inder Nacht. Wir hatten nach Krischan nun einen zweiten Freund anSibirien verloren, aber wie unterschiedlich waren diese beiden Menschen und ihrSchicksal. 


Aus "Nur nicht mit den Wölfen heulen" von Wolfgang Balke l zum Shop »
Eine weitere Leseprobe aus dem Buch »

Buchtipps

zur Übersicht Reihe Zeitgut
Buchcover Reihe Zeitgut Band 31
Im Konsum gibts Bananen
Alltagsgeschichten aus der DDR
1946–1989
Zum Shop »
Unsere Heimat - unsere Geschichten Band 30. Unsere Heimat - unsere Geschichten. Wenn Erinnerungen lebendig werden. Rückblenden 1921 bis 1980
Zum Shop »
Als wir Räuber und Gendarm spielten Band 29. Als wir Räuber und Gendarm spielten. Erinnerungen von Kindern an ihre Spiele. 1930-1968
Zum Shop »
Klick zum Buch "Kriegskinder erzählen" Band 27. Kriegskinder erzählen
Erinnerungen 1939-1945 
Zum Shop »
Zum Shop
Klick zum Buch "Späte Früchte" Florentine Naylor
Späte Früchte für die Seele
Gedanken, die das Alter erquicken
Zum Shop »
Klick zum Buch "Momente des Erinnerns" Momente des Erinnerns
Band 3. VorLesebücher für die Altenpflege
Zum Shop »