Plötzlich habe ich zwei Schwestern (Auszug)

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Irma und ich während der Getreideernte 1940.
von Harry Banaszak

März 1940–Herbst 1943; Berlin – Kaltohmfeld nahe Worbis, Eichsfeld, Thüringen

[Der kleine Harry aus Berlin wird im März 1940 im Zuge der Kinder-Landverschickungen, aufs Dorf ins thüringische Eichsfeld geschickt. Harry ist gerade bei seiner neuen Familie angekommen … ]

Onkel Erich und ich betreten das Haus durch einen kleinen Vorbau mit ein paar Stufen zur Diele, von hier führt eine gerade Holztreppe zu den oberen Räumen. Gleich vor der Treppe rechts ist die Küche. In der Küche steht eine Eckbank, davor der große Tisch, ein paar Stühle und der Küchenschrank. Es ist eine große Wohnküche. Im Küchenherd brennt Feuer, Wasser kocht in einem Topf, neben dem Herd steht die große Kiste mit dem Feuerholz und eine Bank mit zwei Zinkeimern voll Wasser. Brunnenwasser. Von der Küche führt eine Tür ins Nebenzimmer. Überall sind Leute. Sie sitzen, stehen, schauen mich an. Onkel Erich sagt: „Das ist jetzt unser Junge, er heißt Harry.“

Zwei Mädchen, eines mit langen blonden Zöpfen, das andere mit einer Schleife im Haar, kommen auf mich zu und sagen: „Ich bin die Anni“ und „ich bin die Irma.“

Sie lachen mich an. Und plötzlich habe ich zwei Schwestern. Ich spüre das genau. Die Frau mit dem Kopftuch ist die Mutter, für mich Tante Lina.

Tante Lina sagt nun zu mir: „Anni wird auch neun Jahre alt, so wie du, und Irma kommt im nächsten Jahr zur Schule, sie ist fünf.“ Sie zeigt auf die anderen: „Das sind Großvater Karl und Albert. Otto ist gerade draußen und versorgt die Pferde und Carl – noch ein Bruder von Onkel Erich – füttert die Schweine und die Kühe. Frieda, die Schwägerin, die Frau vom jüngsten Bruder Paul ist in ihrer Stube. Paul ist an der Front.“

Jetzt weiß ich Bescheid. Ich bin von einer großen Familie aufgenommen worden. Am meisten gefällt mir, daß ich zwei Schwestern habe. Tante Lina hat mich zur Begrüßung in den Arm genommen, das überrascht mich. Ich kenne nur Küßchengeben auf die Wange, ob bei der Begrüßung oder beim Abschied, und das gute Händchen geben und den Diener machen. Ich merke gerade, daß ich zum Dienermachen noch gar keine Gelegenheit hatte. Trotzdem sind alle auch so sehr freundlich zu mir.
Zum Schlafen geht es ab nach oben. Im Schlafzimmer, mit einem Fenster zum Hof, stehen zwei Ehebetten, ein Schrank, zwei Nachtschränke.

„Unser Zimmer mit Vater und Mutter“, erklärt Anni. Sie zieht sich aus, schlüpft ins Nachthemd, Irma ebenfalls, und beide hüpfen in das linke Bett vom Fenster. Ich zögere, warte.
„Na los“, sagt Tante Lina, „hier am Fußende bei den Mädels ist dein Kopfkissen.“

Etwas fremdelnd lege ich mich dann doch mit unter das gemeinsame Federbett zu Anni und Irma. Sie kichern und albern noch ein Weilchen herum, ich aber bin nach diesem aufregenden und erlebnisreichen Tag sofort tief eingeschlafen.

Das Krähen des Hahnes, lautes Kleinviehgegacker, Hundegebell und eine Reihe mir unbekannter Geräusche wecken mich. Die hellsten Sonnenstrahlen, die ich je gesehen habe, scheinen mir ins Gesicht. Die Mädchen sind nicht mehr da. Sie sind schon unten. Ich höre sie in der Küche lachen. Bestimmt frühstücken sie schon. Schnell ziehe ich mich an. Zum Frühstück gibt es Bröckchen. Bröckchen sind in Würfel geschnittenes Graubrot mit Malzkaffee und frischer Milch übergossen und zwei Teelöffel Zucker darüber. Wir essen die Bröckchen aus einer großen Tasse. Holzfeuer prasselt unter der Herdplatte. Das Wasser im Topf kocht immer noch oder schon wieder. Tante Lina schält Kartoffeln. Vom Küchenfenster aus sehe ich den Misthaufen mitten im Hof, dahinter die Scheune mit weitgeöffnetem Scheunentor. Und Hühner, den Hahn, der mich vorhin so fröhlich weckte, eine Gruppe Gänse, ein paar Enten. Alles schnattert und gackert durcheinander.
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Tante Alwine und die ganze Ferkelei. Ein Foto aus den 30er Jahren.
„Vater ist mit den Pferden und dem Wagen in Worbis“, sagt Anni, als ich nach Onkel Erich frage. „Vater fährt täglich die Milch von Kaltohmfeld und von Kirchohmfeld zur Molkerei.“
„Und wer macht den Bauernhof ?“ frage ich, denn daß auf dem Feld gearbeitet werden muß, um zu ernten, weiß ich schon aus dem Lesebuch der dritten Klasse.

„Um die Landwirtschaft kümmern sich vorwiegend Mutter und Großvater, Carl, Otto und Albert helfen dabei. Vater arbeitet am Nachmittag nach dem Milchfahren mit den Pferden auf dem Feld“, sagt Anni. „Viel Arbeit für Max und den Braunen. Aber manchmal läßt Großvater auch die beiden Kühe anspannen. Die sind eine gute Hilfe.“

Wir Kinder gehen ins Dorf. Die Mädchen wollen mir die Schule zeigen.

„Das da, das gelbe Fachwerkhaus neben der Kirche ist unsere Schule. Sie ist 1836 gebaut worden und jetzt 104 Jahre alt. Wir haben nur einen Klassenraum und einen Lehrer für alle Schuljahre“, klärt mich Anni auf, und sie sagt: „Aber es macht trotzdem Spaß, ich mag die Schule. Du auch?“

„Das wird schon die dritte Schule sein, die ich seit meiner Einschulung besuche. Meine Lehrer waren immer sehr streng, vorige Woche vor den Osterferien bin in die vierte Klasse gekommen, mit vier Zweien und vier Dreien.“

Mit dieser Antwort sind die Mädchen zufrieden. Über Schule wird nicht mehr gesprochen. Jetzt sind Ferien. (...)

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