Der elektrische Weidezaun

von Georg Hörmann

1953; Neuburg/Kammel, Bayern

„Büable, morga nachmittag brauscht nit Küah hüata, denn bis dau na han i mein elektrischa Zau fertig“, rief mir mein Onkel, freudig erregt entgegen, als ich mittags, von der Schule kommend, an seinem Bauernhof vorbeilief.

Das war mit gerade recht, so konnte ich mit meinen Freunden am Kammelwehr zum Baden gehen. Mein Onkel hatte eine kleine Landwirtschaft, und in den Sommermonaten hütete ich seine Kühe gegen ein willkommenes Trinkgeld öfters auf der Weide.

Es war in den 50er Jahren, als in meiner Heimat die ersten elektrischen Weidezäune aufkamen. Zu einer solchen Anlage gehörten spezielle Batterien, das entsprechende Gerät für die Umwandlung des Batteriestroms in deutliche spürbare Stromschläge, Draht für die Stromleitung um die Wiese und Pfähle oder eiserne Pflöcke mit isolierten Drahthaltern. Natürlich war das alles nicht ganz billig, so daß die Anschaffung für einen sparsamen schwäbischen Bauern mit einigen inneren Widerständen verbunden war.

Mein Onkel, der bekannt für seine Basteleien war, hatte sich bei der BayWa die neue Erfindung angeschaut und nach kurzem Überlegen entschlossen, den Elektrozaun selbst nachzubauen. „Dös wär ja no schöner, wenn i dös net nabringa dät“, sagte er zu seiner Frau, „onsra Wiesn isch ja glei henterm Stall, do brauch i doch koi duira Batterie kaufa, wenn i da Strom glei aus der Steckdos von der Melkkammer nemma ka.“

Gesagt, getan! In die Pfähle des alten Stacheldrahtzaunes drehte er vorschriftsmäßig Stifte mit isolierten Haken und zog einen dünnen Draht, diesen um die Stifte wickelnd, von Pfahl zu Pfahl um die Wiese. Für die letzten 20 Meter von der Wiese über den Hof bis zur Melkkammer verwendete er eine isolierte Leitung, weil ja diese, auf dem Boden liegend, sonst den Strom ins Erdreich abgeleitet hätte. Er klemmte die Drahtenden in einen Stecker und drückte ihn in die Steckdose. Der Weidedraht stand unter Strom!

Da er sich schon dachte, daß der Haushaltsstrom etwas stärker sein könnte als der offizielle Batteriestrom, versäumte er nicht, an der Seite zum Nachbargrundstück noch ein Schild mit der Aufschrift
„Vorsicht – Elektrozaun – Lebensgefahr!“
an einen Pfahl zu hängen.

„Rosa, laß die Küah raus, dr Zau isch fertig!“, rief er seiner Frau im Stall zu.

Diese öffnete die Tür und schnell eilten die hungrigen Kühe nach der abendlichen Melkzeit der Wiese zu. Der Bauer schloß die Stangen zum Wieseneingang und blickte stolz und erwartungsvoll auf sein Werk.

Inzwischen erreichte die erste Kuh den Zaun. Sie streckte den Kopf unter dem Elektrodraht zu den saftigen Grasbüscheln der Nachbarwiese und berührte mit dem Nacken den geladenen Draht. Wie vom Blitz getroffen fiel sie um, wobei sich der Draht im Gehörn verfing. Eine zweite Kuh, erstaunt über die im Gras liegende Genossin, schnupperte neugierig an dieser, berührte sie kurz mit ihrem Maul und wurde schlagartig, wild mit den ausgestreckten Beinen zuckend, umgeworfen.

Der Bauer starrte zunächst wie gelähmt auf die Geschehnisse, sprang dann auf die Wiese, um die regungslos am Boden liegenden Kühe vom Zaun wegzuziehen. Er packte den Kopf der zweiten Kuh, der auf dem Bauch der ersten lag, und – stürzte augenblicklich ebenfalls zu Boden, wo er bewußtlos liegenblieb.

Inzwischen war auch seine Frau, die ihrem Mann vergeblich vor dieser Elektrobastelei gewarnt hatte, aus dem Stall gekommen und sah das Unglück. Schnell entschlossen zog sie, die Ursache erkennend, den Stecker der elektrischen Leitung aus der Dose und näherte sich den auf der Wiese liegenden Geschöpfen. Da schlug der Bauer langsam wieder seine Augen auf. Allmählich erholte er sich von seiner Bewußtlosigkeit, blickte um sich und sah das Ergebnis seiner Sparsamkeit: zwei tote Kühe!

Zu seiner Frau aber sagte er: „Rosa, i glaub, meine Gommistiefel, dia du mir zum Namenstag gschenkt hast, hand mir’s Leba grettat.“

Wenn man den Wert einer Kuh in der damaligen Zeit bedenkt – das Fleisch konnte nur noch für einen Spottpreis auf der Freibank verkauft werden – hatte sich das Sprichwort wieder einmal bewahrheitet: „Jeder Sparer hat seinen Zehrer.“ Die Bauernbuben vom Dorf aber dichteten:

Salomon der Weise spricht:
Kühe hüten mag ich nicht!
Darum muß der Starkstrom her,
und gescheh’n ist das Malheur:
Ja, die Kuh lag schon am Boden,
er muß den Metzger Gottfried holen.

Damit war bei meinem Onkel die moderne Technik vorerst gestoppt und ich konnte als Hütebub wieder ein paar Mark verdienen.

Aus: „Schlüssel-Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 6.

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