Das Huhn „Tuck-Tuck“

von Margot Linke

1930/31 am Ortsrand von Gröditz bei Riesa/Elbe, Sachsen;

Unsere Nachbarn hatten hinter dem Haus einen kleinen Hühnerstall mit fünf bis sechs Hühnern und seiner Majestät, dem Hahn. Der Bursche ließ niemanden in die Nähe seiner Frauen. Also mußte ich mit vielen Tricks und gutem Futter seine Gunst erobern. Das gelang mir auch sehr bald. Allerdings jagte er seine Damen weg, sobald ich Leckerbissen für alle brachte. Bei Regenwürmern war der Kampf groß.

Als Küken ausschlüpften, war ich nicht mehr zu bremsen. Frau Beck, die Nachbarin, erlaubte mir, die kleinen gelben Wollknäuel in die Hand zu nehmen und zu streicheln. Ein kleines Küken piepste immer, wenn ich in die Nähe des Hühnerstalles kam. Sehr bald kannte es meine Stimme und begrüßte mich mit „Tuck-Tuck“. Unsere Freundschaft war besiegelt. Es war ein besonders kluges Hühnchen. Auf meinen Ruf hin lief es bald hinter mir drein ins Haus und hüpfte die Treppenstiege hinauf. Kam ich mit dem Puppenwagen angefahren und rief: „Komm, Tuck-Tuck!“, nahm es Anlauf und flatterte in den Wagen. Manchmal setzte ich ihm eine Pudelmütze auf und legte ihm einen Schal um. Es sieht lustig aus, wenn Hühner „feingemacht“ werden. Das wagte ich freilich nur, wenn kein Erwachsener in der Nähe war.
Bild
Ein besonders kluges Hühnchen war mein Spielgefährte. Auf dem Osterfoto „Tuck-Tuck“ und ich im Partnerlook.
Mein Vater fotografierte sehr gern. Er suchte sich immer Motive aus, die uns Kinder zusammen mit Blumen und Tieren zeigten. Zum Geburtstag, zu Ostern, zu Weihnachten, zu Hochzeiten und zu anderen Anlässen verschickte er an alle Verwandten und Bekannten seine Karten. Wir Kinder waren nicht begeistert, wenn es hieß: fünf Minuten lächeln und stillhalten! Auf der Osterkarte mußte mein „Tuck-Tuck“ die liebevolle Kükenmutter spielen. Sie sah mir zu, als wollte sie sagen: „Ich bin zu Höherem berufen, als mich mit dem kleinen Volk herumzuärgern.“

Im Herbst suchte ein kleiner Wanderzirkus für sich und seine Tiere ein Winterquartier. Hinter unserem Garten war ein ehemaliger Sportplatz, der dem Zirkus zur Verfügung gestellt wurde. Alle Nachbarn halfen der Zirkusfamilie. Oft wunderte sich meine Mutter: „Wo ist denn schon wieder das Brot geblieben, heute morgen war es doch noch da?“

Aus unserem und den Kellern der Nachbarn holten wir gelbe Rüben und Gemüse, das zur Überwinterung in Sand gelagert wurde. Mein Bruder sägte ein Loch in unseren Gartenzaun, damit wir schnell zu den Tieren gelangen konnten. Wir durften sie füttern, bürsten, mit ihnen spazierengehen und sogar darauf reiten. Ich erzählte dem Herrn Zirkusdirektor, daß ich eine besonders kluge Henne hätte und sie ihm unbedingt zeigen müsse. Voller Stolz führten wir die Kunststücke vor. Wenn ich ihr noch einiges beibrächte, könnte ich im Frühjahr bei ihm auftreten, meinte er. Ich war fest entschlossen, einmal Frau Zirkusdirektorin zu werden.

Der Frühling kam und meine Tuck-Tuck war die Schönste, ja die allerschönste Henne auf der ganzen Welt. Nachbars Tochter rüstete für ihre Hochzeit. Der Bräutigam oder ein Verwandter sollte für die Hochzeitssuppe ein Huhn schlachten. Am nächsten Tag lagen vor unserer Tür „Tuck-Tucks“ Kopf, die Füße und zwei Federn! Das war für mich ungeheuerlich, und ich habe lange getrauert.

Die Jahre vergingen, den kleinen Hühnerstall gab es nicht mehr. Beide Söhne hatten sich im Nachbardorf eine Hühnerfarm gekauft. Als der Krieg begann, gab Mutter Beck alles auf und zog allein in das Anwesen. Mit aller Kraft wollte sie den Söhnen, die jetzt Soldaten waren, die Existenz erhalten. Ein Sohn fiel in Rußland, der zweite war vermißt. Frau Beck hoffte lange, daß der verschollene Sohn wiederkommen würde. Ihre drei Töchter fuhren täglich mit dem Fahrrad zur Mutter. Sie wurde still und stiller. Als keine Aussicht auf eine Heimkehr mehr bestand, starb sie.

Aus: „Zwischen Kaiser und Hitler“. ZEITGUT Band 15.

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