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Leseprobe aus "Trümmerkinder"

Brigitta Stolpe
Zwischen Nachkriegselend und Wirtschaftswunder
 
Aachen, Nordrhein-Westfalen; 1951/52
Wir hatten noch keinen Gummibaum und auch keinen Nierentisch, wo wir die Pflanze hätten draufstellen können. Ich kannte weder Bananen noch Apfelsinen; eine Tomate hatte ich zwar schon gesehen, aber noch keine gegessen.
Wir, meine Mutter und ich, waren übriggeblieben. Wir hatten zwar eine Wohnung, aber kein richtiges Dach über dem Kopf. Acht Wohnungen waren eilig übereinander gesetzt worden, bei der neunten, unserer Mansarde, mußte wohl das Material ausgegangen sein, so daß Himmel und Eiszapfen Dekken- und Dachersatz waren.
Es war kalt, und wir froren. Aber wir hatten Fenster, und wir konnten weit schauen und tief hinein in die Trümmer der Häuser, deren Fassaden noch einige Zeit stehenbleiben sollten.
Es gab welche, denen ging es schlechter als uns, die kamen selbst zu uns in den 5. Stock, wo doch außer Himmel und Kälte kaum etwas zu erwarten war, sie kamen und bettelten. Und sie bekamen auch immer etwas: Reibekuchen, eine Brotkruste oder Schuhe vom Alois. Alois war mein Vater gewesen. Von ihm hing ein Bild in unserer Küche, und mehrmals am Tag sagte meine Mutter mit Blick auf sein Bild: „Der war zu gut für diese Welt.“ Und vielmehr weiß ich nicht von ihm. Ich weiß auch nicht, ab wann meine Mutter begonnen hatte, die Verbesserung unserer kläglichen Lage zu planen. Wie viele Gedanken – wie viele Unternehmungen?
Aber daran erinnere ich mich: Wir mußten weite Wege machen zu grauen, großen Häusern, wir mußten auf grauen, langen Gängen stundenlang warten und wieder weite Wege zurücklegen. Wir spürten die Armut und den täglich größer werdenden Mangel – während im Hause schon ein leichter Wohlstand zu spüren war. Der Zahnarzt vom Erdgeschoß leistete sich – wenn auch noch als einziger in der Straße – einen PKW, der vor unserer Haustür parkte. Die Dame über ihm schaffte sich einen Königspudel an und ließ diesen in den Trümmern pinkeln. Die beiden Heinke-Mädels gingen mit bunten Röcken und roten Lippen, ein Lied von Pariser Nächten trällernd, zu einem Karnevalsball.
Wir beide jedoch machten weiter unsere Behördengänge, immer in derselben Prozedur und immer mit deprimierendem Ausgang: Meine Mutter setzte den Sonntagshut auf und zog den Pepitavorkriegsmantel an, und ich wurde in das rote Mäntelchen, das aus Tante Käthes Cape zurechtgestückelt worden war, gezwängt. Weite Wege, langes Warten – wieder umsonst!
Schön war es aber in der Schule. Ich hatte eine bunte Fibel, einen Platz neben dem gußeisernen Ofen, der vom Hausmeister zweimal täglich angefeuert wurde, und in meinen Henkelmann kam einmal täglich Milchreis mit Zucker und Zimt. Und es gab Fleißkärtchen, von denen ich viele mit nach Hause brachte. Ab zehn Fleißkärtchen konnte man sich beim Fräulein ein Heiligenbildchen abholen, zum Beispiel das, auf dem der blonde Schutzengel Flügel und Arme über ein ebenfalls blondes Kind ausgebreitet hält, das barfüßig auf einem Steg geht, während dunkle Abgründe zu beiden Seiten drohen.
Ich erfuhr schließlich, was es mit dem Gang zu den Ämtern auf sich hatte, beim soundsovieltem Male hatte ich es erfaßt:
Trümmerkinder
Ich ging gern zur Schule. Im 2. Schuljahr, 1952, wurde dieses Foto von mir gemacht.
Um an das zum Überleben notwendige Hinterbliebenen- und Entschädigungsgeld zu kommen, mußte unsere Lage aktenmäßig erfaßt sein, das mußte aufgezählt, beschrieben, bezeugt, mit dem richtigen Formular an der richtigen Stelle abgegeben und von der maßgeblichen Stelle überprüft, bearbeitet und in die Wege geleitet werden. Daß mein Vater nie Nazi war, daß wir zweimal ausgebombt waren, daß die Familien väterlicherseits und auch die Familien mütterlicherseits ...
 Als meine Mutter nach langem Schlangestehen dem Mann hinter der Barriere wieder einmal unsere Geschichte erzählt und dieser nur stumpfsinnig dagesessen hatte, meinte sie, daß es doch ungerecht sei, daß es uns so schlecht gehe, wo doch der dicke Heinke, dieser verkappte Nazi, schon wieder ganz dicke dastehe. Der Beamte wurde ungehalten, und wir wurden fortgeschickt.
„Hier riecht es noch nach Nazi“, sagte meine Mutter im Hinausgehen, ich weiß nicht, ob zu mir oder zu dem Beamten hinter der Barriere. Meine Mutter – und das sah auch jener Beamte im Erdgeschoß sofort – kam aus dem „unteren“ Volke. Diese Tatsache ließ sich nicht verstecken, obwohl noch viele so aussahen wie meine Mutter und ich. Meine Mutter kannte nur ihre eigene Sprache, keineswegs die Beamten- oder Behördensprache, ja ich mußte erfahren, daß sie in ihren wenigen Volksschuljahren kaum Lesen und Schreiben gelernt hatte. Mit Behörden hatte sie außerdem nie etwas zu tun gehabt, das hatte immer der Alois gemacht. Aber der war ja zu gut für diese Welt gewesen.
Und dann kam jener Behördengang, der mit einem Mal die Barrieren sprengte. Und das kam so:
Wieder hatten lange wir in einer Schlange gestanden, bis wir endlich „drankamen“, und wieder fehlten Unterlagen. Und wieder waren wir eigentlich an der falschen Stelle. Routinemäßig wurden wir fortgeschickt.
Doch dann geschah es!
Meine Mutter wandte sich nicht um, nahm mich nicht an die Hand. Sie blieb stehen. Eine lange, stille Zeit!
Und dann merkte ich die Wandlungen: Zuerst richtete sich die Feder ihres Sonntagshutes speerspitzenartig in die Höhe, dann wurden die kleinen Pepitas ihres Mantels zu großen, leuchtenden Quadraten, und sie wuchs und wuchs auf ihren Absätzen aus Feuerstein. Auch der Beamte hinter seiner Schranke bemerkte schließlich die bedrohliche Wandlung meiner Mutter, und ich erinnere mich noch an seine schutzsuchende Schulter- und Armbewegung. Aber vor diesem Angriff gab es keinen Schutz mehr!
Meine Mutter, flammend und riesig geworden, schleuderte dem Beamten, schleuderte der ganzen Behörde einen Schrei entgegen:
„B e a m t e n a r s c h !!!!!“
Von allen Wänden, allen Türen, allen Treppen und Gängen kam dieser Schrei zurück – vielfach verstärkt.
Der Beamte sah sich plötzlich der Macht, einer Übermacht gegenüber, und davor gab es kein Entrinnen!
Die Barriere öffnete sich, und wir wurden durchgelassen. Von Etage zu Etage, noch immer verfolgt von dem Schrei, wurden wir vorgelassen, und schließlich, im letzten Stock, war es wieder still geworden. Eine Tür wurde geöffnet, der Amtsleiter persönlich bat uns herein. Am Fenster stand ein glänzender Gummibaum, und an den Wänden hingen Fotografien unserer Stadt aus der Vorkriegszeit. Zwei Sessel vor seinem mächtigen Schreitisch wurden uns zum Sitzen angeboten, und ich versank darin in halber Ohnmacht.
Meine Mutter blieb, ebenfalls im Sessel sitzend, noch auf gleicher Höhe mit dem Amtsleiter. Sie begann mit ihrer, mit unserer Geschichte, und der wichtige Mann hinter dem Schreibtisch ließ sie reden, nickte gelegentlich, machte sich hin und wieder eine Notiz, zeigte Verständnis für die Sorge der Mutter um das mickrige Kind, das ich war, ja, er schien sogar an der Darstellungsweise meiner Mutter Gefallen zu finden. Als sie mit der wahrheitsgetreuen Schilderung unserer Gänge zu den Behörden und den dort erfahrenen Behandlungen geschlossen hatte, entschuldigte sich der hohe Beamte. Er sagte etwas von „begrenzt“ und „beschränkt“ im Hinblick auf die ihm Untergebenen und fügte hinzu, er wolle sich in unserem Fall persönlich verwenden. In fast vertraulicher Atmosphäre wurden wir verabschiedet, und mein Knicks ging tief in die Knie. In dieser Haltung folgte ich meiner Mutter die Treppen hinunter durch die Gänge, verfolgt von den verwirrten Blicken der „Beschränkten“, die meine Mutter jedoch nicht verwirrten.
Der Amtsleiter hat Wort gehalten: Es fing an mit einer großen Käse- und Kaffeezuweisung, viel zu viel für zwei Personen. Dann wurde ich regelmäßig zum Gesundheitsamt geschickt, wurde unter die Höhensonne gesetzt, bekam süßen Tran und zum Schluß jeweils ein Knäckebrot und einen Apfel. Der Geldbriefträger kam jetzt des öfteren zu uns hoch, und er wurde für seine Mühe nach Bewältigung der 96 Stufen mit einem 2 DM-Schein belohnt. Auch hatten wir nun Zugang zu einen wohltätigen Bekleidungsverteilungsring, wenngleich Muster und Größen der einzelnen Stücke zum Lachen oder Streiten Anlaß gaben. Dann bekamen wir sogar eine Freifahrt ins Sauerland, Hin-und Rückreise 1. Klasse. Der Krieg war im Wald und in der Pension „Waldesruh“ nie ein Thema gewesen. In die Stadt zurückgekehrt, war das Haus fertiggestellt, und wir hatten nun Dach und Decke.
Ich gewöhnte mich an Bananen. Später kauften wir uns auch einen Gummibaum. Meine Mutter empfahl mir, die Beamtenlaufbahn einzuschlagen.
Trümmerkinder Der Text ist dem Buch Trümmerkinder entnommen.

29 Zeitzeugen erinnern sich im Buch Trümmerkinder an die unmittelbare Nachkriegszeit der Jahre 1945 bis 1952. Die Kinder erdulden nach dem Krieg Hunger und Kälte. Sie lernen in überfüllten Schulklassen und spielen oft zwischen Trümmern. In den zerstörten Städten herrscht große Wohnungsnot, Lebensmittel müssen auf „Hamsterfahrten“ organisiert werden. Die meisten Mütter sorgen allein für die Familie. Viele Väter sind gefallen, verschollen oder befinden sich noch in Kriegsgefangenschaft.
Den Kindern hat der Zweite Weltkrieg nicht nur ihre Familienangehörigen, Freunde und Nachbarn geraubt, sondern auch ihre unbeschwerte Kindheit und ihr vertrautes Zuhause zerstört.
Heute staunen die Menschen dieser Generation oft, wie sie diese Zeit trotz aller Entbehrungen letztlich überstanden haben.

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