Leseprobe aus den Buch:
Buchcover
Kai von Westerman
Letzte Bilder von der Mauer
Reportage 1989

mehr zum Buch »
 

Leseprobe
"Letzte Bilder von der Mauer"

6. November 1989 - Letzte Bilder von der Mauer

... Wir sollen jederzeit erreichbar bleiben.
So wird das Hotel (in Berlin-West) für uns zu einer Art Freigehege. Die Zentrale unseres Senders in Paris hat die Bedeutung des Themas unserer Berichte erkannt. Sie übernimmt alle Kosten, die dem Team entstehen, damit wir vor Ort bleiben und nichts Wichtiges verpassen.
...

Wir waren unterwegs in der Stadt, um mal frische Luft zu schnappen und ein anderes Lokal zu sehen. Bertrand erschien am nächsten Morgen etwas graugesichtig beim Frühstück und sagte zur Begrüßung: „Haha." Seitdem versucht er, uns mit kleinen Aufträgen bei Laune zu halten. Er schickt uns in das Lager einer Berliner Teppichgroßhandlung. Die Halle stand leer. Nun ist sie voller Feldbetten, auf denen Menschen campieren, die über die Tschechoslowakei oder Ungarn aus der DDR geflohen sind.
Kurz vor dem Abendessen schickt er uns erneut los: „Dreht Bilder von der Mauer." „
Aber Bertrand, draußen ist es stockdunkel... sollen wir nicht lieber morgen bei Tageslicht... außerdem regnet es."
„Ich brauche die Bildern heute."

Wir fahren zum Brandenburger Tor. Von hier, von Westen aus, wirkt es monumentaler, als von Osten besehen, weil man näher heran kann. Dafür steht die Mauer im Blickfeld. Im Osten steht man weiter entfernt vom Tor und näher an hohen Stadthäusern, und es gibt mehr Straßenverkehr.
Hier im Westen stehen links und rechts nur Bäume. Die Straße wird nur von denjenigen benutzt, die sich die Mauer und das Brandenburger Tor ansehen wollen. Jetzt gibt es keine Touristen. Der Asphalt ist spiegelnd nass. Feiner Regen nieselt. Der Himmel über Ost-Berlin leuchtet im Widerschein der Stadt. Davor steht das Brandenburger Tor wie ein grauer Scherenschnitt. Der schwarze Schatten der Mauer beschneidet den Blick auf die Sockel der Kolonnaden.
Es ist still. Der rauschende Lärm der Stadt wird übertönt vom Prasseln dicker Wassertropfen, die von den Bäumen fallen. Das Tor ist angestrahlt. Auf dem Dach glänzt die grünliche Quadriga.
Da bewegt sich etwas.
Vor dem rechten, übermannshohen Speichenrad stehen vier Soldaten in langen bräunlichen Regencapes. Durch das Teleobjektiv bekomme ich sie fast in voller Größe ins Bild. Einer von ihnen hält ein Fernglas vor die Augen. Er schaut nach Westen, die Achse der „Straße des 17. Juni" entlang. Uns am Straßenrand entdeckt er nicht, obwohl ich eine helle Jacke anhabe. Die Beine des Kamerastatives glänzen alufarben. Auch die übrigen drei Soldaten schauen über uns hinweg in die Tiefe West-Berlins. Gelegentlich wenden sie sich einander zu, scheinen einige Worte zu wechseln.
Wir steigen auf die Besucherplattform rechts vor dem Brandenburger Tor. Die Fläche zwischen der Mauer und dem Tor glänzt wie der Wasserspiegel eines Sees. Gleißende Laternen an hohen Masten erhellen den Platz. Dieser Bereich gehört zum Todesstreifen. Das beleuchtete Tor scheint vor dem dunklen Hintergrund zu schweben wie vor einem nassen schwarzen Tuch.
Zwischen den Kolonnaden spaziert ein Wachsoldat in glänzenden Stiefeln herum. Er isst einen Apfel. Seine freie Hand verbirgt er äußerst unsoldatisch in der Manteltasche. Im Lichte eines tief stehenden Scheinwerfers wirft der Soldat einen überlebensgroßen Schatten an die Wand des Torhauses.
Die Soldaten bewachen eine Grenze, deren Übertretung lebensgefährlich ist. Kein Bürger darf dieses Land verlassen. Gegner der Regierung sitzen in Haft.
Ein zweiter Soldat taucht zwischen den Säulen auf. Er macht seinen Apfel kauenden Kameraden aufmerksam: „Du, Hans!" zeichnet unser empfindliches Kameramikrofon seine Worte auf.
„Ja?"
„Guck ’mal nach drüben. Da sind welche."
Der Soldat mit dem Apfel sieht sich in westlicher Richtung um, bis er direkt in unser Objektiv schaut. Er wendet sich ab. Nebeneinander verschwinden sein Kamerad und er zwischen den Säulen des Torhauses.
„Unser" Grenzübergang ist ein schmaler Durchlass in der Mauer, gerade breit genug für einen PKW. Unmittelbar neben der Maueröffnung steht ein trutziger Wachturm. Hinter den kleinen Fenstern zeichnen sich die Köpfe des Wachpersonals wie Schatten ab. Der Wachturm und die Mauer erinnern an die Einfahrt zu einer engen Schleuse. Mit Sicherheit kann die Besatzung im Turm den Antrieb eines schweren Tores auslösen, um die schmale Lücke in der Mauer binnen Minuten zu verschließen. Neben dem Durchlass leuchtet eine grüne Ampel. Auch hier befindet sich auf unserer Seite eine Aussichtsplattform. Dadurch können wir über die Mauer hinweg in die Anlage des Grenzüberganges hinein und nach Ost-Berlin schauen.
Ein Fahrzeug nähert sich von Westen. Langsam fährt der Wagen durch die Maueröffnung hindurch. Seine Scheinwerfer erhellen kurz die Betonblöcke, die tief gestaffelt dicht neben der Fahrspur aufgestellt sind. Nach wenigen Metern muss der PKW scharf links abbiegen. Dazu zwingt ihn eine brusthohe Mauer aus Betonelementen, die mit Erde befüllt sind. Alles ist so eingerichtet, dass niemand mit einem Auto, einer Planierraupe und wahrscheinlich noch nicht einmal mit einem Panzer geradeaus durch die Grenze brechen kann. Die Korridore zwischen den Betonklötzen sind so lang, dass selbst ein guter Läufer eine Weile unterwegs wäre. Bevor er der unübersichtlichen Anlage entkommen könnte, stünden ihm die Grenzposten aus dem Wachturm gegenüber.
Der Abfertigungsbereich des Grenzüberganges ist überdacht und in kaltes Neonlicht getaucht. Es gibt jeweils zwei Fahrspuren für Ein- und Ausreise. Sie sind baulich so voneinander getrennt, dass es unmöglich ist, mit einem Fahrzeug die Spur zu wechseln. Außerdem sind die Bereiche durch eine lange, schmale Baracke voneinander getrennt, so dass über weite Bereiche kein Sichtkontakt zwischen Ein- und Ausreisenden besteht.
In einem weißen VW-Golf mit eingeschaltetem Standlicht wartet jemand auf die Ausreise. Ein rot-weißer Schlagbaum versperrt ihm den Weg.
Weiter rechts kurvt ein Tanklastzug in engen Schlangenlinien um die Hindernisse in der LKW-Zufahrt des Grenzüberganges. Jenseits der Abfertigungsgebäude glitzern auf dem nassen Asphalt einer Kreuzung die Lichter des Ost-Berliner Straßenverkehrs.
„Guck ’mal am Wachturm. Da will uns einer fotografieren", raunt Wilhelm.
Der Wachturm hat auf Höhe der kleinen Fenster eine Galerie. Hinter der rechten Ecke des Turmes beugt sich der Schatten eines Soldaten über die Brüstung. Der Soldat hält einen Fotoapparat mit riesigem Blitzreflektor. Er löst aus. Für wenige Sekunden sind wir geblendet. Ein schönes Schlussbild.
„Komm’ is’ gut. Lass’mal ins Hotel fahr’n." Grinsend reicht Wilhelm mir die graue Plastikschachtel für die Kassette. Den Aufkleber hat er bereits beschriftet:
„6.11.1989 – Letzte Bilder von der Mauer"

...

9. November 1989 - Maueröffnung

Seit zwei Tagen wohnen wir wieder in Ost-Berlin. Bertrand schickt Wilhelm und mich zum Ministerium für Bauwesen der DDR. Er will heute einen Beitrag über den Arbeitskräftemangel in diesem Land drehen. Selbst Neues Deutschland berichtet inzwischen offen über die Probleme, die sich aus der massenhaften Abwanderung von Bürgern aus der DDR ergeben. 
...

Nach Drehschluss fragt mich Wilhelm: „Sollen wir Familie Renner besuchen?" Er spricht, als wären die Renners alte Freunde von uns.
Ich zweifele: „Meinst du, die freuen sich, wenn wir unerwartet bei denen vor der Tür stehen?"
„Sie müssen uns ja nicht ’reinlassen", versucht Wilhelm meine Bedenken wegzuwischen. Es gelingt ihm nicht. Aber ich habe auch nichts Besseres vor.
Also fahren wir. Die Stadt liegt in abendlicher Dunkelheit. Es ist gegen sieben Uhr. Um halb acht klingeln wir bei Renners. Sie sind zu Hause und bitten uns sogar herein.
„Nehmt Platz", fordert Herr Renner uns auf. Er und seine Frau sind dabei, ihr Wohnzimmer aufzuräumen. Zwischendurch verschwindet Frau Renner durch die schmale Küchentür nach nebenan. Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch mit der Häkeldecke stehen Aschenbecher, Gläser und einige Bierflaschen bereit.
„Was können wir für euch tun?" fragt Herr Renner, „wo habt ihr denn eure Kamera gelassen und euren... Kollegen..., diesen Franzosen?" Herr Renner denkt, wir haben noch eine Frage.
„Och, wir wollten nur mal so vorbeischauen", teilt Wilhelm leutselig mit.
„Also", druckst Frau Renner, „also, ihr könnt gerne bleiben, solange die Gäste noch nicht da sind."
„Hat jemand Geburtstag?" kichert Wilhelm.
„Ja, der Gerd, äh, mein Mann", sagt Frau Renner.
Erleichtert ergreife ich die Gelegenheit und erhebe mich, bevor Wilhelm uns zu Herrn Renners Geburtstag einladen kann.

Wilhelm lässt den Motor an und schaltet die Scheinwerfer ein. Ich drehe das Autoradio lauter. Eine männliche Stimme rät: „...nutzen Sie unbedingt öffentliche Verkehrsmittel." Dann fragt der Moderator: „Mit wie vielen Schaulustigen rechnen sie denn?"
Es antwortet ein anderer Mann – unverkennbar – Walter Momper, der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, offenbar ist er Studiogast bei RIAS-2: „Das kann man überhaupt nicht absehen..."
Gab es irgendwo einen Bombenanschlag oder findet ein Popkonzert statt? Es handelt sich um ein West-Berliner Ereignis. Trotzdem werden wir unruhig. Wir sind Nachrichtenleute. Warum erklärt der Moderator nicht, was passiert ist?
Wilhelm beschleunigt. Selbst er fährt in der DDR immer korrekt. Aber jetzt durchqueren wir in knapp zwanzig Minuten die abendliche Stadt.
Im Hotel an meiner Zimmertür klebt ein Zettel:
Bild
Wir laden die Kamera ins Auto und fahren los.
Es ist ein milder Abend. Am Brandenburger Tor stehen viel mehr Leute als um diese Zeit üblich. Sie starren in Richtung Westen. Sonst nichts.
„Es gab ein’ Press’konferenz mit Schabowski", erzählt Bertrand atemlos, „er hat gesagt: Jeder kann sofort ausreisen!"
Wir fahren zu „unserem" Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße. Alles ist ruhig. Wie immer.
„Die Leuten sind noch bei der Volkspolizei", erklärt Bertrand. Ihm fällt ein: „Man braucht ein Visum von der Volkspolizei."
„Wo ist denn die nächste VoPo-Dienststelle?" fragt Wilhelm.
„Am Alexanderplatz!" Ich bilde mir ein, neben dem Bahnhof ein entsprechendes Hinweisschild gesehen zu haben. Wir lassen das Auto stehen und irren zu Fuß über den dunklen, stillen Platz. Ich habe die Kamera auf der Schulter. Zwei junge VoPos auf Streife kommen uns entgegen. „’allo, entschuldigen Sie! Französisches Fernsehen. Wir ’aben ge’ört, dass Bürgern der DDR bei der Volkspolizei sofort ein Visum bekommen, um auszureisen."
„Bei uns nicht", sagt der kleinere Polizist. Er trägt ein klobiges Funkgerät.
„Wo ist denn die nächste Polizeidienststelle?"
Die zwei VoPos schauen sich um.
„Hier nicht", sagt der lange dünne.
„Det is’ bestimmt ’ne Ente", grinst der kleinere.
Bertrand lächelt selbstsicher: „Entschuldigen Sie, wir sind französisches Fernsehen, wir ’aben unsere Quellen."

Ein Stück weiter begegnet uns ein Paar mittleren Alters. Der Mann ist groß und schlaksig. Er trägt Jeans und ein dunkles Jackett und hat eine kleine Nickelbrille auf der Nase. Wie der Redakteur einer Designzeitschrift.
„’allo, wir sind vom französischen Fernsehen. Wir ’aben gehört, dass es gibt ab sofort Reisefrei’eit für alle Bürgern der DDR."
Die Augen des Mannes beginnen erstaunt zu leuchten. „Davon haben wir noch nichts gehört", sagt er, „komm’, vielleicht sollten wir mal Nachrichten gucken." Er hakt seine Frau unter. Sie eilen davon.
Bertrand ist ratlos: „So, was machen wir? Fahren wir bei die Familie Renner?"
Am Brandenburger Tor stehen inzwischen noch mehr Leute. Die Grenzposten auf dem Pariser Platz patrouillieren verstärkt, weil von Westen her Menschen auf die Mauerkrone klettern.
Da spricht mich ein Herr in einem fliederfarbenen Trenchcoat an. Ich habe schon oft mit ihm gearbeitet. Trotzdem stellt er sich vor: „Guten Abend. Mein Name ist Karl-Heinz Günther. Ich bin Redakteur beim ZDF-Studio in Bonn und zurzeit für ein Seminar in Berlin. Ich komme soeben aus dem Theater. Was ist hier eigentlich los?"
„Guten Abend, Herr Günther", antworte ich, „angeblich ist die Mauer offen."

Der nächste Grenzübergang ist an der Invalidenstraße. Einige Dutzend Bürger drängeln sich vor der geschlossenen Gittertür der Personensperre. Sie weisen den Grenzern den frischen Visumstempel in ihren blauen Reisepässen vor. Ein Offizier der Grenztruppen schaut sich die Reisepässe an, lässt aber niemanden durch. Er weiß nichts von einer neuen Regelung. Stetig kommen weitere Leute hinzu. Sechzig oder siebzig Personen drängen sich auf dem Gehsteig. Der Offizier verschwindet in der Wachstube.
Nach einer Weile kommt er zurück. Als wäre es tägliche Routine, öffnet er die schmale Gittertür und lässt jeden, der ein gültiges Visum im Pass hat, hindurch in den Westen.
Es ist nicht zu fassen.
In der Tiefe der Grenzkontrollstelle knallt der erste Sektkorken. Ein Jubelschrei. Die ersten Menschen im Grenzübergang gehen, als wären sie getrieben und gebremst zugleich: Getrieben von der Neugier, gebremst von der lebenslangen Erfahrung: Die Grenze ist gefährlich! Das muss sich anfühlen, wie der erste Schritt auf die Oberfläche des Mondes.
Auf der Invalidenstraße stauen sich die Trabis bereits bis zur Kreuzung Chausseestraße. Noch liegt der rot-weiße Schlagbaum geschlossen über der Fahrbahn. Routiniert kontrolliert ein Grenzbeamter die Visa in den Reisepässen der Insassen. Dann hebt er den Schlagbaum. Der erste Trabi röhrt durch die Grenzanlage Richtung Westen.
Der Offizier hat sich von einem Untergebenen ablösen lassen und ist inzwischen schon wieder in der Wachstube. Er kommt heraus und informiert seine Mitarbeiter durch halblauten Zuruf, dass ein gültiger Reisepass zur Ausreise reicht.
...
mehr zum Buch »

Buchtipps

zur Übersicht Reihe Zeitgut
Buchcover Reihe Zeitgut Band 31
Im Konsum gibts Bananen
Alltagsgeschichten aus der DDR
1946–1989
Mehr erfahren »
Unsere Heimat - unsere Geschichten Band 30. Unsere Heimat - unsere Geschichten. Wenn Erinnerungen lebendig werden. Rückblenden 1921 bis 1980
Mehr erfahren »
Als wir Räuber und Gendarm spielten Band 29. Als wir Räuber und Gendarm spielten. Erinnerungen von Kindern an ihre Spiele. 1930-1968
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Trümmerkinder" Band 28. Trümmerkinder
Erinnerungen 1945-1952
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Kriegskinder erzählen" Band 27. Kriegskinder erzählen
Erinnerungen 1939-1945 
Mehr erfahren »
zum Shop
Klick zum Buch "Späte Früchte" Florentine Naylor
Späte Früchte für die Seele
Gedanken, die das Alter erquicken
Mehr erfahren »
Klick zum Buch "Momente des Erinnerns" Momente des Erinnerns
Band 3. VorLesebücher für die Altenpflege
Mehr erfahren »

Navigationsübersicht / Sitemap

zum Shop  |   Bestellen  |   Gewinnen  |   Termine  |   Leserstimmen  |   Wir über uns  |   Lesecke
Modernes Antiquariat  |   Flyer  |   Plakate  |   Schuber  |   Lesezeichen  |   Postkarten  |   Aufsteller  |   Videoclip  |   Dekohilfe  |   Anzeigen

Themen