Unvergessene Weihnachten. Band 11
27 Zeitzeugen-Erinnerungen.
192 Seiten, viele Abbildungen, Ortsregister.
Als Taschenbuch oder gebundenes Buch

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Mein Gott, noch heute schmerzen mir die Ohren, wenn ich an dieses fürchterliche Geklimper denke!

Foto Wolfram Horn
Weihnachten 1959. Die Gebrüder Horn präsentieren sich stolz mit ihren Weihnachtsgeschenken - verschiedenen Musikinstrumenten. Foto von Wolfram Horn aus der Geschichte "Weihnachten mit Musik" aus Unvergessene Weihnachten. Band 11.
Bad Grund, Harz; 1950er Jahre

Weihnachten mit Musik
Wolfram Horn

In unserer Kinderzeit gab es für meine drei Brüder und mich zwei besondere Höhepunkte im Jahr. Den einen bildete die Zeit der Sommerferien – sechs Wochen der unbegrenzten Freiheit und des Abenteuers. Der andere war die Weihnachtszeit mit ihren Tagen der stilleren Töne, der geheimnisvollen Erwartung und Vorfreude. Wie herrlich unbeschwert und ausgelassen unsere Sommerferien auch waren, so werden sie doch in meiner Erinnerung unscheinbar und blaß gegen die von Heimlichkeit und stillem Zauber erfüllten letzten Wochen des Jahres. Trotz Geldmangels, der Ende der fünfziger Jahre wohl in den meisten Familien herrschte, verstanden es meine Eltern, uns Kinder zum Weihnachtsfest mit den einfachsten Mitteln immer wieder zu überraschen und glücklich zu machen.

Allein das Vorbereiten auf Weihnachten war schon Freude und Spannung genug. Wenn es anfing zu dämmern, kehrten wir Kinder schnell vom Spielen heim, um meiner Mutter beim Backen der Weihnachtskekse und dem Herstellen so manch anderer Leckereien zu helfen. Ich kann mich nicht erinnern, daß es zu anderen Zeiten bei uns zu Hause so friedlich und einträchtig zuging wie in der Vorweihnachtszeit. Wir Jungen, die sonst jede Hausarbeit nur unter Protest und widerwillig erledigten, legten nun einen völlig untypischen Arbeitseifer an den Tag. Wenn ich so zurückblicke, scheint es mir auch so, als hätten wir Brüder dann harmonischer zusammengelebt und uns weniger gestritten als sonst. Hier ist es natürlich möglich, daß mir mein Erinnerungsvermögen eine allzu „rosarote Brille“ aufsetzt, aber diese Geschichte läßt sich eben nur in den Bildern schildern, wie sie noch in meinem Kopf vorhanden sind.

Unter uns vier Brüdern begann in dieser Zeit immer ein großes Rätselraten um die zu erwartenden Geschenke, doch das war natürlich ein strenggehütetes Familiengeheimnis. Wir konnten unsere Mutter mit unseren Fragen noch so quälen und löchern, niemals machte sie auch nur die kleinste Andeutung.
„Das Wichtigste an der Bescherung ist die Überraschung“, pflegte sie stets unerbittlich auf unsere Fragen zu antworten. Obendrein verstand sie es, unsere Spannung und Vorfreude noch zu erhöhen, indem sie sich bei Gelegenheit jeden einzeln zur Seite nahm und ihm anvertraute, gerade er würde dieses Jahr „den Vogel abschießen“ und das schönste Weihnachtsgeschenk von allen bekommen. Nur solle er ja nichts den anderen davon sagen. Das taten wir dann auch tatsächlich nicht, aber ich denke mir heute, jeder von uns ahnte diesen kleinen liebenswerten Betrug. Doch die meisten Menschen sind nun einmal so veranlagt, daß sie gern das glauben, was sie glauben möchten, und so war jeder von uns nur allzugern bereit, sich für den Auserwählten zu halten.

Es war eine feststehende Tradition in unserer Familie: Statt am Heiligen Abend gab es bei uns die Bescherung erst am Morgen des ersten Weihnachtstages. Das stellte zwar in unserem kleinen Harzort ein einmaliges Kuriosum dar, aber unsere Mutter begründete diese Ausnahme vom allgemein Üblichen damit, daß das Jesuskind ja nicht am Heiligen Abend, sondern am ersten Weihnachtstag geboren sei. Nun, heute wissen wir längst, daß keine korrekte Zeitangabe zur Geburt Jesu möglich ist. Weder Jahr noch Tag noch Stunde lassen sich historisch belegen, aber damals erschien uns Mutters Aussage als schlüssiges und unumstößliches Argument. Dessen ungeachtet beneideten wir natürlich unsere Spielkameraden maßlos, wenn sie am frühen Abend zur Bescherung nach Hause liefen, während wir noch einen langen Abend und eine endlose, unruhige und schlaflose Nacht warten mußten. Aber wenn man auch in gewissen Situationen glaubt, die Zeit würde stillstehen und niemals vergehen, so war noch in jedem Jahr unser heißersehnter Weihnachtsmorgen doch angebrochen. Wir Kinder waren natürlich längst vor unseren Eltern wach, durften aber auf keinen Fall vor halb sieben aufstehen. Obwohl sehr aufgeregt, unterhielten wir uns leise in unseren Betten, bis endlich diese Zeit gekommen war.
Da in unserer Wohnung kein Badezimmer zur Verfügung stand, rannten wir hinunter in die Küche, um uns dort zu waschen und anzuziehen. Unsere Mutter bereitete in der Zwischenzeit das Frühstück vor, während unser Vater den Weihnachtsbaum schmückte und das Wohnzimmer herrichtete.
Nach dem Frühstück, von dem wir Kinder vor Aufregung sowieso nichts runterbekamen, verschwanden unsere Eltern gemeinsam ins Wohnzimmer. Nun mußten wir auf das Signal zur Bescherung warten: Wenn unser Vater auf den Flur hinaustrat und mit einem Glöckchen läutete, war es soweit. Endlich, endlich hatten wir auch diese letzte Etappe der schier unerträglichen Spannung hinter uns und hörten es lieblich bimmeln. Sofort stürmten wir Jungen unter viel Gerangel und Geschubse los.

Wohn- und Schlafzimmer lagen im ersten Stock des Hauses, während sich die Küche im Erdgeschoß befand. Wir mußten also durch das Treppenhaus hasten und einen langen Flur entlang, um an unser Ziel zu gelangen. So war es immer gewesen, auch in jenem Jahr, von dem ich erzählen will. Doch diesmal hatten wir unseren Parcours schon hinter uns und die Stube fast erreicht, als wir von unten Geschrei hörten!

Mein Vater riß erschrocken die Wohnzimmertür auf und schickte uns zurück, um nachzusehen, was mit unserem Bruder Bodo los sei, der offensichtlich in unserer kleinen Mannschaft fehlte. Nicht gerade glücklich über diese höchst ärgerliche Verzögerung rannten wir wieder zurück in die Küche, aus der das Angstgebrüll kam. Da sahen wir die Bescherung: Von uns anderen völlig unbemerkt, hatte sich unser Bruder in der Aufregung mit seinen Hosenträgern am Gestänge unseres Küchenherdes so verfangen, daß er sich selbst nicht mehr befreien konnte. Gemeinsam versuchten wir, die Träger zu lösen, aber sie hatten sich durch Bodos ungeschickte Bewegungen derart fest in der engen Ritze zwischen Herd und Herdstange festgeklemmt, daß es eine gehörige Zeit gekostet hätte, sie dort herauszufummeln. Die hatten wir natürlich nicht!
Kurzerhand löste Torsten, der Älteste von uns vieren, die Schnappverschlüsse der Träger von Bodos Hosenbund und unser Bruder war frei. Unter anderen Umständen hätten wir über Bodos Mißgeschick gelacht, aber so war er nur die Ursache einer unverzeihlichen Verzögerung und mußte nun die wüstesten Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Dem armen Kerl standen die Tränen in den Augen. Jetzt endlich rannten wir, Bodo etwas langsamer als wir anderen, da er nun seine Hose mit beiden Händen festhalten mußte, zurück zum Wohnzimmer. Und endlich hinein!

Das Zimmer erstrahlte in einem Glanz, der nicht nur vom geschmückten Weihnachtsbaum allein herrühren konnte. Ich hatte immer das Gefühl, daß dieser Raum wußte, daß nun Weihnachten war und sich uns in einer besonderen, nicht alltäglichen Ausstrahlung und Atmosphäre präsentierte. Die im übrigen Jahr gewöhnliche Stube hatte sich über Nacht in ein festliches Weihnachtszimmer verwandelt. Der große Baum, der auf einer Kommode in einer Ecke stand, sah einfach herrlich aus! Unser Vater hatte ihn mit viel Liebe und größter Sorgfalt geschmückt. Noch heute sehe ich das reichliche Lametta, die roten und silbernen Weihnachtskugeln und das Engelhaar vor mir, rieche den Duft der Wachskerzen.

Auf einer kleinen Anrichte standen wie in jedem Jahr unsere bunten Teller mit den köstlichsten Süßigkeiten. Das waren Leckereien, von denen wir gewöhnlich kaum zu träumen wagten: selbstgemachte Marzipankugeln, gebackene Kekse, köstliche Feigen, Mandarinen. Dazu türmten sich von meiner Mutter nach eigenem Rezept hergestellte kleine Schokoladenkugeln für uns auf. Und doch war diesmal etwas anders. Unter dem Weihnachtsbaum lagen keine Geschenke!
Betreten schauten wir unsere Eltern an, aber Mutter meinte nur, es könne nicht jedes Jahr zu Weihnachten aus einem vollen Topf geschöpft werden. Wir sollten erst einmal gemeinsam ein Weihnachtslied singen, bevor es an die Bescherung ginge. Nur, was für eine Bescherung? Eine Bescherung ohne Geschenke?

Wir wußten, daß unsere Eltern nur wenig Geld zur Verfügung hatten und machten uns schon halb verzagt und den Tränen der Enttäuschung nahe, mit dem Gedanken vertraut, daß die bunten Teller dieses Jahr die einzigen Gaben sein sollten. Aber so richtig glauben konnten wir es doch nicht. Was half es, bevor wir endgültige Gewißheit erlangen würden, hatten wir zu singen.
Als das Lied mit den leider viel zuvielen Strophen endlich bis zum letzten Vers erklungen war, griff unser Vater zu unserer übergroßen Freude hinter die schwere, breite Kommode und holte unsere Geschenke, die bisher unseren Augen verborgen waren, hervor. Jetzt begriffen wir auch, warum sie nicht, wie sonst üblich, unter dem Weihnachtsbaum gelegen hatten. Sie waren einfach viel zu groß, um in teures, kostbares Geschenkpapier eingewickelt zu werden.
Mein Bruder Torsten bekam eine Wandergitarre, Bodo, der zweitälteste, eine Geige, unser Nesthäkchen Harald eine Zither und ich eine mittelalterlich anmutende Laute. Ich hätte viel lieber die Gitarre statt der Laute bekommen, doch so unleidlich wir Kinder sicherlich auch manchmal waren, es wäre uns nie in den Sinn gekommen, an unseren Geschenken herumzumäkeln.

Später erfuhren wir, daß unser Vater diese Instrumente für einen geringen Betrag einem befreundeten Nachbarn abgekauft hatte. Der Nachbar, ein freundlicher älterer Herr, seines Zeichens promovierter Musikwissenschaftler, hatte die guten alten Stücke, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, ein paar Wochen vor Weihnachten zufällig auf seinem Speicher entdeckt. Da war unserem Vater wohl die Idee der „musikalischen Weihnachtsgeschenke“ gekommen, und er hatte sie in wochenlanger Arbeit gemeinsam mit dem netten Nachbarn restauriert und aufgemöbelt. Die viele Mühe, die das Aufbessern der Instrumente gekostet hatte, und die Liebe, mit der sie uns geschenkt wurden, fanden jedoch nicht die verdiente Würdigung. Es läßt sich leider kein treffenderer Ausdruck finden: Unsere Eltern hatten „Perlen vor die Säue“ geworfen.

Nun war es nicht etwa so, daß wir uns nicht gefreut hätten, wir lebten wirklich an der Armutsgrenze und waren dankbar für jedes Geschenk, das wir bekamen. Aber die Eltern hatten, wohl der günstigen Gelegenheit wegen, völlig übersehen oder bewußt ignoriert, daß wir Jungen absolut unmusikalisch waren. Jedenfalls tat diese unbedeutende Nebensächlichkeit der wohlgemeinten Überraschung keinen Abbruch. Wir freuten uns und wollten unsere Geschenke selbstverständlich auch benutzen. So versuchte jeder von uns, seinem Instrument ein paar harmonische Klänge zu entlocken. Das war schon schlimm genug, aber katastrophal wurde es, als einer von uns auf die Idee kam, mit unseren verschiedenen Instrumenten gemeinsam ein Weihnachtslied zu spielen. Mein Gott, noch heute schmerzen mir die Ohren, wenn ich an dieses fürchterliche Gequietsche, Gekratze und Geklimper denke!
Nie habe ich so viele Mißtöne auf einmal gehört, und ich glaube, noch niemals haben unsere Eltern eine Bescherung so sehr bereut wie diese.
Die Instrumente fristeten jahrelang ein unbeachtetes Dasein auf unserem Dachboden und verschwanden irgendwann auch von dort. Wo sie abgeblieben sind, kann ich heute nicht mehr sagen. Wir Brüder haben später nie wieder ein Musikinstrument in die Hand genommen und sind bis heute hoffnungslos unmusikalisch geblieben. Was aber nicht heißen soll, daß wir nicht gerne Musik gehört hätten. Wir paßten uns dem Geschmack unserer Eltern an und hörten vorwiegend deutsche Schlager – bis die Beatles aufkamen und sich alles änderte. Was wir uns damit für Ärger einhandelten, ist eine andere Geschichte.

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