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Die Geschichte "Verbotenes Tun" steht in dem Buch
Unsere Heimat - unsere Geschichten
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Foto aus Privatbesitz Elisabeth Balzer
Ein wichtiges Utensil: Mit diesem Blockwagen transportierten wir Kinder Kohlen, Kartoffeln und vieles mehr. Ich stehe ganz rechts.

Geschichte von Elisabeth Balzer

Flensburg 1939-1948

Kindheit im Krieg
(gekürzte Fassung)

„Auf nach Krakau!“ stand an dem Zug in Flensburg-Weiche. Väter und Söhne verabschiedeten sich und ließen ihre Familien in der Heimat allein zurück. Unser Leben zu Hause änderte sich. Abends gingen Luftschutzwarte um die Häuser und kontrollierten unsere Verdunkelung. Wir trugen Leuchtplaketten an den Mänteln, damit wir uns nicht gegenseitig umrannten. Auf den Straßen war es stockfinster. Beim Kaufmann bezahlten wir jetzt zweimal: einmal mit Geld und einmal mit Lebensmittelkarten. An der Kasse hing eine Schere, damit schnitt der Kaufmann die Abschnitte ab und klebte sie abends auf Karton. Für Kleidung gab es Kleiderkarten und für Schuhe Bezugsscheine.
„Räder müssen rollen für den Sieg“ stand nun an den Zügen. Es war sehr umständlich, von hier nach da zu kommen. Oft mußte man auf Bahnhöfen lange warten oder gar übernachten, die Transporte an die Front hatten Vorrang. Im Abteil für Reisende mit Traglasten ging es recht turbulent zu: Kartoffeln, Kohl, Äpfel wurden in Säcken oder Körben hin- und hertransportiert, genauso wie lebende Kaninchen, Enten, Gänse und Eintagsküken. Das Gepäck stand in der Mitte des Abteils, hölzerne Sitzbänke drumherum.
Wir Kinder hatten uns mit den Zeitumständen, so ernst sie auch waren, eingerichtet, paßten uns den Verhältnissen an und blieben so Kinder. Es gab eine Kultfigur: der Kohlenklau, ein Männchen mit einem Sack auf dem Rücken, in Büchern und Zeitschriften abgebildet. Es durfte nicht unnötig geheizt oder Licht angemacht werden. Überall lauerte der Kohlenklau. Er war immer gegenwärtig und in aller Munde. Eine geglückte Propagandafigur.
Wenn in der Nacht unsere Fliegerabwehrkanonen (Flak) geschossen hatten, liefen wir am anderen Morgen auf die Straße und suchten Flaksplitter. Eckige, scharfe Eisensplitter, die wir nach Größe und Form sortierten, untereinander tauschten und in Zigarrenkisten aufbewahrten. Aus den Zeitungen schnitten wir Bilder von Soldaten aus, die mit dem Eichenlaub zum Ritterkreuz ausgezeichnet waren, kannten sie mit Namen und klebten sie in Hefte. Fast jedes Haus besaß einen Volksempfänger. Zwischen den Nachrichten gab es Sondermeldungen, wie erfolgreich die Front begradigt worden war. Oft war die Nacht recht kurz. Wir saßen viele Stunden lang im Luftschutzkeller.
Am 22. Juni 1941 brach der Krieg mit Rußland aus. Die Soldaten wurden jünger und unsere Lehrer älter. Man sah immer mehr schwarzgekleidete Frauen auf den Straßen. Lebensmittel wurden knapper, die Rationen kleiner. Wir sammelten zu jeder Jahreszeit: Schafwolle von den Zäunen, Holz im Wald und die winzigen Bucheckern. Letztere lieferten wir im Ernährungsamt ab und bekamen dafür Speiseöl in Flaschen. Aber es war sehr mühevoll. Auf den Feldern rafften wir Kartoffeln und Ähren zusammen. Auf dem Güterbahnhof liefen wir zwischen den Schienen, sortierten die Steinkohle aus der Schlacke heraus, taten sie in einen Sack und fuhren sie mit dem Blockwagen nach Hause. Wenn ein Zug sich näherte, sprangen wir zur Seite und sammelten dann weiter.
Trotz allem hatten wir unseren Spaß. So improvisierten wir Theaterstücke in einer Lehmkuhle mit ausgegrabenen Stufen als Sitzplätze für die Gäste. Manch ein Gast entdeckte sein Ballkleid auf der Bühne. Wir hatten viel Spaß, auch bei den Vorbereitungen. Wie alle Kinder in dieser Zeit spielten wir mit Bällen, Springtauen und Kreiseln – und es gab keine gefährlichen Straßen.
Der Krieg im Osten wurde immer härter. Für unsere Soldaten packten wir Pakete, buken Kuchen, schrieben Briefe und bekamen Briefe. Wir saßen in einem Garten, an eine Mauer gelehnt, und strickten aus kleinen bunten Wollresten Pulswärmer und Quadrate für eine Wolldecke. Jedes einzelne Quadrat wurde mit Stoff gefüttert und zu einer Wolldecke zusammengenäht. Dabei halfen uns dann die Größeren.
Foto aus Privateigentum Elisabeth Balzer
In den Heimnachmittagen bereiteten wir Päckchen für unsere Soldaten an der Front vor. Wir saßen in einem Garten, an eine Mauer gelehnt, und strickten aus kleinen bunten Wollresten Pulswärmer und Quadrate für eine Wolldecke.
1944 trafen die ersten Flüchtlingsschiffe von Ostpreußen und Pommern in Flensburg ein. Die Flüchtlinge wurden auf Familien in Schleswig-Holstein verteilt. Mit Schrecken hörten wir von versenkten Schiffen in der Ostsee. Der Krieg näherte sich mit unvorstellbarem Grauen.
Im Mai 1945 war der Krieg zu Ende.
Im Herbst begann die Schule wieder, und dort gab es für jeden Schüler die Hoover- oder Schweden-Speisung*). Das war ein Segen für uns Kinder. Gut organisiert kam jeden Vormittag ein Lastwagen, der die Suppe brachte. Es gab verschiedene Sorten: entweder Schokoladen-, Keks-Vanille- oder Bohnensuppe mit Soja. Diese Hooverspeisung hat es viele Jahre gegeben.
Der Schulunterricht fiel allerdings bald wieder aus, die Schulen wurden zu Lazaretten umfunktioniert. Meine Freundin Angeli und ich besuchten verwundete Soldaten und erledigten Botengänge, luden auch mal jemanden nach Hause zum Essen ein. Eines Tages kamen wir aber nur bis auf den Flur. Gebeugte, ausgemergelte, hohläugige Gestalten mit einer grauen Wolldecke über dem kahlgeschorenen Kopf schlichen über die Flure und starrten vor sich hin. Es waren russische Gefangene, die in der Nacht mit einem Transport gekommen waren. Die deutschen verwundeten Soldaten hatte man auf verschiedene Krankenhäuser verteilt. So nah hatte ich den Krieg noch nie gesehen, soviel Grauen in den Gesichtern noch nie wahrgenommen.
Dann kam der eiskalte Winter 1946/47. Wir nannten ihn den Rübenwinter. Das Thermometer sank auf minus 30 bis minus 34°C. Die Schule fiel wieder aus, sie konnte nicht geheizt werden. Aber die Schulspeisung lief weiter. Man rückte dichter zusammen. Ein ehemaliger Lehrer holte die Nachbarskinder zu sich und unterrichtete Englisch.

Die bedrückte Stimmung der Erwachsenen übertrug sich auch auf uns Kinder. Viele junge Männer waren aus dem Krieg nicht zurückgekommen oder, wie mein älterer Bruder, mit schweren Verwundungen. Etliche Männer hatten Amputationen. Traurige Nachrichten von gefallenen Vettern erreichten uns. In dieser Zeit erkrankte meine Mutter an Lungenentzündung. Es ging ihr sehr schlecht. Ein Aufenthalt im Krankenhaus war zu dieser Zeit nicht ratsam, ein Arzt aus der Nachbarschaft betreute sie. Ich habe manche Nacht bei ihr gewacht. Eine Nachbarin half uns im Haus und auch bei der Pflege meiner Mutter. Mein Vater war nicht zu Hause, er war zeitweise interniert. Wir waren alle erschöpft und am Tiefpunkt angelangt. Wie lange würden wir noch durchhalten?
Die Lebensmittel wurden noch knapper. Onkel Otto schickte uns mit der Bahn zwei Ziegen. An einem Strick zogen wir sie nach Hause. In einem Schuppen neben dem Haus hielten wir Hühner, pro Person war ein Huhn erlaubt. Die bekamen nun eine Leiter ins Obergeschoß, und unten zogen die Ziegen ein. Malchen und Susi waren sehr störrisch, und es war eine Kunst, sie zu melken. Auf dem Schulweg nahm mein jüngerer Bruder die Ziegen mit und band sie an einem Grabenrand fest, wo sie Gras fraßen. Mittags brachte er sie wieder mit nach Hause.
Nach der Währungsreform 1948 verbesserte sich die Versorgung schlagartig. Es gab noch Lebensmittelkarten, aber der Kaufmann nahm sie oft gar nicht mehr an. Das leidige Schlangestehen blieb aus. Es ging wieder aufwärts.

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