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Jörg Sielaff
Gespräch mit meinem vermissten Vater
Was ich dem U-Boot-Offizier gerne erzählt hätte

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Horizonterweiterung

Ilse Sielaff mit Söhnen
Unserer Mutter ist es gelungen, uns so zu erziehen, dass wir immer zu ihr aufsehen konnten. Sie konnte vor allem Lutz und mich so nehmen, wie wir waren. Vor allem weil wir beiden Brüder so verschieden waren. Sie führte uns immer an der „langen Leine“, aber wenn es notwendig war, konnte sie diese Leine auch stark anziehen, und dann gab es keine andere Meinung als ihre. (Mutter Sielaff mit Jörg, links, und seinem Bruder Lutz etwa 1954.)

aus "Gespräch mit meinem vermissten Vater" von Jörg Sielaff

Unsere Fahrräder waren bei Kriegsende abgelegte, alte Klapperkisten, die wir mit blauer und silberner Farbe aufgehübscht hatten. Mein Fahrrad hatte eines Tages einen Rahmenbruch. Und als ich erfuhr, dass es nicht zu reparieren sei, war es aus mit der Fahrrad-Fahrerei. Doch Opa Gutschmidt half wieder einmal. Er ging mit mir zu „Fahrrad Sonntag“, um ein Fahrrad zu kaufen. Es hatte sogar eine 3-Gang-Schaltung.
Mit unseren neuen Fahrrädern wollten wir gerne mal etwas weiter wegfahren. Wegen der Zonengrenze um Berlin herum ging das aber nicht problemlos. So kamen wir auf die Idee, einen Lkw-Fahrer zu fragen, ob er uns und unsere Räder durch die Ostzone nach Westdeutschland mitnehmen würde. In den Herbstferien wollten Lutz und ich eine Fahrradtour nach Niedersachsen machen. Ich war inzwischen 14 und Lutz war elf Jahre alt. Unseren Wunsch besprachen wir mit Mutter und Opa Gutschmidt. Wir wollten in Jugendherbergen in Westdeutschland übernachten und mit einem Lkw aus unserer West-Berliner Nachbarschaft, dem Rheinisch-Westfälischen Frachten Kontor, mitfahren. Da wir zu Hause kein Telefon hatten, war die Bedingung, dass wir jeden Tag über ein Postamt ein R-Gespräch mit Opa Gutschmidt führen mussten. Außerdem sollten wir täglich eine Postkarte an Mutter schreiben. Die Route für eine Woche hatten wir bereits festgelegt.
Mutter begleitete uns noch zu dem Lkw. Der Abfahrtstermin war mit dem Fahrer vorher abgeklärt. Als unsere Fahrräder im Lkw verstaut waren und wir es uns in der Fahrerkabine schon gemütlich eingerichtet hatten, kamen wir uns wie echte Abenteurer vor. Zum ersten Mal waren wir alleine von zu Hause weg, aber stolz, dass Mutter uns dieses Vertrauen geschenkt hatte.
Durch das höhere Sitzen in dem Laster konnten wir die Straße und den Verkehr gut überblicken. An der westlichen Zonengrenze Berlin-Dreilinden ging alles sehr schnell, Persönliche Papiere zeigen und weiter. An der östlichen Zonengrenze, in Babelsberg, staute sich der Lkw-Verkehr. Nun hieß es, Geduld bewahren. Wir verbrachten insgesamt fünf Stunden an der Grenze, bis wir endlich durch die Ostzone fahren konnten. Es gab damals durch die Ostzone nur drei Transitrouten. Wir fuhren über die Autobahn in Richtung Marienborn (Ostseite) und Helmstedt (Westseite).
Jörg Sielaff auf Fahrradtour
Unsere Fahrradtour durch Niedersachsen führte uns über Hannover, Hildesheim, Einbeck, Goslar, Braunschweig und Helmstedt. Foto 1955
Nachdem wir endlich wieder die Grenze nach Westdeutschland passiert hatten, atmeten wir erleichtert auf. Unser Fahrer blieb aber immer ganz gelassen und beruhigte uns sogar; denn was an der Grenze alles passieren konnte, war immer eine Überraschung. Wir hatten Kinderausweise und reisten ohne elterliche Begleitung.
Unser Lkw hatte als Endziel das Ruhrgebiet. Unser erstes Ziel mit den Fahrrädern aber war Hannover. Von dort wollten wir mit den Fahrrädern die Tour durch Niedersachsen fortführen. Unser Lkw-Fahrer setzte uns auf der Zufahrtsstraße nach Hannover ab. Ich glaube, es war nachts gegen 3.00 Uhr. Mit unseren Rädern standen wir nun auf einer grell gelb beleuchteten Straße. Für die Jugendherberge in Hannover war es noch zu früh und so entschlossen wir uns, als erstes zum Hauptbahnhof Hannover zu fahren. Wir begegneten keiner Menschenseele, aber wir fanden den Hauptbahnhof. Dort steuerten wir die Bahnhofsmission an. Uns war bekannt, dass man in der Bahnhofsmission übernachten konnte. Doch nachdem wir die Tür zu dem großen Schlafsaal geöffnet hatten, schlug uns ein ekliger Geruch von schalem Bier und lautes Schnarchen entgegen, sodass wir sofort kehrtmachten. Wir beschlossen, uns in den Bahnhofs-Wartesaal zu setzen. Dort durften wir bis 6.00 Uhr früh bleiben; dann kam die Putzkolonne. Die Menschen, die wir trafen, waren alle sehr freundlich zu uns, vor allem wenn wir von unserer geplanten Fahrradtour erzählten. Diese Tour sollte uns über Hannover, Hildesheim, Einbeck, Goslar und Braunschweig wieder nach Helmstedt führen. Wir fuhren täglich zwischen 32 und 58 Kilometer. In den Orten übernachteten wir immer in den Jugendherbergen, dort bekamen wir für wenig Geld auch genügend zu essen. In Hannover besuchten wir Deine Cousine Ernchen und wurden von ihr gut bewirtet. ...
Die gesamten Herbstferien verbrachten wir ohne Pannen und Probleme. Die täglichen langen Fahrradstrecken machten uns gar nichts aus, denn wir waren jung und voller Energie. So kamen wir glücklich und zufrieden in der Jugendherberge von Helmstedt an. Die gewünschten Postkarten waren alle versendet und die R-Gespräche geführt, sodass Mutter und Opa Gutschmidt immer auf dem Laufenden und zufrieden waren. Nach dem Abendessen in der Herberge gingen wir zu Bett. Wir waren die einzigen Jungs, die in dem großen Raum schliefen. Plötzlich fing Lutz an zu zittern und er fror. Ich fühlte seinen Kopf, der ganz heiß war. Ich nahm erst eine der freien Decken, nach und nach weitere und deckte ihn damit zu, doch er klapperte immer lauter mit den Zähnen.
In meiner Not ging ich zum Herbergsvater und dachte, so ein Herbergsvater ist eben wie ein richtiger Vater, der weiß sicher, wie er uns helfen kann. Nach kurzer Zeit war er bei uns – mit einem großen Esslöffel, gefüllt mit einer braunen Flüssigkeit. Er sagte, Lutz solle diese „Medizin“ schlucken, was er aber nicht wollte. Nach meinem Zureden und den Worten „du bist ein Sielaff, jetzt nimm den Löffel und trinke!“, leerte er den Löffel.
„Morgen wird es Dir wieder besser gehen“, waren die Worte vom Herbergsvater und es stimmte. Meine Sorge war, dass wir am nächsten Tag nicht mit einem Lkw zurück nach Berlin fahren konnten. Doch alle Bedenken waren umsonst, Lutz war wieder in Ordnung. Die Herbstferien gingen zu Ende. Wir fuhren an die Grenze und fanden auch gleich einen Lkw-Fahrer, der uns mit unseren Rädern wieder nach Westberlin mitnahm.
Diese Fahrradtour war eine tolle Erfahrung, uns wurde von Mutter sehr großes Vertrauen entgegengebracht und wir haben gezeigt, dass wir das Vertrauen nicht missbrauchten. Wenn ich mich heute bei jungen Menschen umhöre, so kann sich kaum noch jemand vorstellen, so eine Tour zu machen, geschweige denn, sie erlaubt zu bekommen. Es sind ja auch heute ganz andere Zeiten.

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