Jürgen Zils
Jahrgang 37 erzählt
Erinnerungen aus Mecklenburg-Vorpommern
1937-2002. 228 Seiten, viele Abbildungen,
Sammlung der Zeitzeugen. Band 82
Zeitgut Verlag, Berlin.
Broschur
ISBN: 978-3-86614-256-5
Euro 16,90
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Jahrgang 37 erzählt
Erinnerungen aus Mecklenburg-Vorpommern
1937-2002. 228 Seiten, viele Abbildungen,
Sammlung der Zeitzeugen. Band 82
Zeitgut Verlag, Berlin.
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ISBN: 978-3-86614-256-5
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Die erste feindliche Begegnung
aus "Jahrgang 37 erzählt"
Frühjahr 1945. Vater Zils, in Binz stationiert, schreibt der Mutter nach Anklam, die Familie solle nach Binz kommen. Kaum ist die sechsköpfige Familie hier vereint, wird von Evakuierung gesprochen. Kurz vor Riebnitz-Damgarten ist die Flucht zu Ende. Der damals 8jährige Jürgen erinnert sich ...
Frühjahr 1945. Vater Zils, in Binz stationiert, schreibt der Mutter nach Anklam, die Familie solle nach Binz kommen. Kaum ist die sechsköpfige Familie hier vereint, wird von Evakuierung gesprochen. Kurz vor Riebnitz-Damgarten ist die Flucht zu Ende. Der damals 8jährige Jürgen erinnert sich ...
Die kampfbereiten Jungen der Hitlerjugend waren enttäuscht, dass sie uns nicht mehr beschützen durften. Einige ließen sich jedoch nicht davon abhalten, unsere Sachen zu tragen. Die meisten blieben aber verzweifelt zurück.
Ausschnitt aus dem 2. Kapitel "Die Flucht" von Jürgen Zils
... Vater war die ganze Nacht nicht aufgetaucht. Erst imMorgengrauen kam er unverhofft aus dem Dickicht. Er trug keine Mütze, keinenLedergürtel mit Pistolentasche, keine Achselklappen und keine Stiefel mehr.Alle, die noch Waffen hatten, wurden überzeugt, diese wegzuwerfen, und soschnell wie möglich in Zivilkleidung in verschiedene Richtungen zu gehen, umnicht den Feinden in die Hände zu fallen. Darüber hatte es in der Nacht heftigeAuseinandersetzungen gegeben. Eine Gruppe hatte sich entschieden, den Feindenunter keinen Umständen in die Arme zu laufen. Sie wollten entweder bis zumletzten Blutstropfen kämpfen oder sich schon vorher mit allen Angehörigenumbringen.
Wir verließen sofort das Versteck, nahmen hastig nur dasNotwendigste von unserem Gepäck und entfernten uns von den anderen. Es musseiner der ersten Maitage gewesen sein. Die Sonne wärmte uns schon und tat unsallen gut nach der kühlen und aufregenden Nacht. Unsere Marschrichtung warklar. Der Feind kam aus Südwest, also ging es nach Nordost in Richtung Darß.Wir mussten die Nacht im Deckbusch nahe bei Körkwitz verbracht haben. AnEinzelheiten vom Vortag, wie wir dorthin gelangt sind, kann ich mich nicht mehrerinnern. Eine große Straße hatten wir überquert.
Nach ein paar Stunden Eilmarsch waren wir mit unserem Habund Gut am Ostseestrand Dierhagen angelangt. Wir glaubten, es geschafft zuhaben und dem Feind noch einmal entwischt zu sein. Vater verschwand für eineWeile, während wir uns am breiten Strand im Sand ausruhten. Die Sonne schienunbarmherzig auf uns herab. Unsere Winterbekleidung war lästig und wurde aufden Rucksack geschnürt. Vater kam wieder und hatte sich alte Sachen aus dem Ortbesorgt. Nun konnte es weitergehen. Als wir einige Schritte gegangen waren,hörten wir hinter uns Geräusche. Wir sahen uns erschrocken um und erkanntenunsere „Beschützer“ in ihren unverkennbaren schwarzen Uniformen derHitlerjugend. Nur einige hatten ihren Kriegsschmuck schon abgelegt. Als sieheran waren, versuchte Vater erneut, sie von der Unsinnigkeit ihres Vorhabens,uns auf diese Weise zu beschützen, zu überzeugen. Die Jungs waren enttäuscht.Sie wollten dann mit einem der Fischerboote, die überall herumlagen, dieschwedische Küste erreichen. Auch ein solches Unternehmen kam einem Selbstmordgleich, denn in der Ostsee gab es mehr Treibminen als Fische. Die Jungs warenfür uns eine Gefahr. Sie blieben zurück. Einige ließen sich jedoch nicht davonabhalten, unsere Sachen zu tragen.
Was nun geschah, hat sich in meinem Gedächtnis als Fluchtdurch brennend heißen Wüstensand eingegraben. Hunger, Durst und Erschöpfungwaren unsere Begleiter. Mir war so elend zumute, daß ich mehrfachzusammenbrach. Nach einigen Kilometern wurden bereits die ersten Gepäckstückevergraben. Später waren es wertvolle Familienandenken, Fotos, Schmuck und alleKleidungsstücke, die im Moment nicht von Nutzen waren. Wir markierten dieStellen durch Pfähle, die wir in den Sand schlugen und glaubten an einenspäteren Wiederfund. Trotz alledem waren wir froh, dass wir den Russenentkommen waren.
Die Jungen, die uns noch immer begleiteten, hatteninzwischen die Uniformen durch andere Kleidung ausgetauscht. Nachdem wir dieSteilküste bei Ahrenshoop hinter uns gelassen hatten, fuhr uns erneut derSchreck in die Glieder: Dort, wo die Bäderstraße sich für ein paar Kilometerdem Strand nähert, gewahrten wir eine kleine Militärkolonne. Das waren Russen.Richtige Russen!
Sie nahmen zunächst keine Notiz von uns. Eine Zeit langschien es so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass wir so friedlichnebeneinander her spazierten.
„Ob sie uns noch nicht entdeckt haben?“, fragte ich.
„Sicher haben sie uns schon viel eher entdeckt als wir sie“,sagte Vater.
Aus der Kolonne löste sich eine Gestalt und kam über dieDünen direkt auf uns zu. Wir standen wie angewurzelt und müssen diesen Menschenwie einen Außerirdischen angeglotzt haben. Eine unbeschreibliche Angst hattenwir. Der Russe hatte seine Kalaschnikow lässig über der Schulter und das Käppitief über der Stirn. Er kam direkt auf meinen Vater zu und sprach ihn an:„Prawda, Prawda, Prawda!“
Vater kramte mit zitternden Händen in seinen Taschen undlegte alles vor seine Füße in den Sand. Er glaubte, der Russe wollte seineWertsachen, so wie die Leute es berichtet hatten. In dem weißen Sand lagen:seine silberne Taschenuhr, eine Armbanduhr, ein Taschenmesser, ein Kompass undkleine Bleistifte, ein Notizbuch, ein Taschentuch, ein leeres Zigarettenetuiund ein Feuerzeug. Der Russe fuchtelte wütend mit seiner Kalaschnikow herum undrichtete die Waffe auf meinen Vater. Wir standen etwas abseits von denStreithähnen und waren vor Angst wie gelähmt. „Prawda“, brüllte er, „Prawda!“
Vater begann mit letzter Verzweiflung, sämtliche Taschenumzudrehen, um zu beweisen, dass er schuldlos war und alles hingelegt hatte.Dabei starrte er auf die Mündung der Maschinenpistole. Ihm war entgangen, dasser die kleine Rolle Toilettenpapier dabei herausriss. Über das eben nochwutverzerrte Gesicht des Russen huschte ein freundliches Grinsen. Vatererkannte seine Überlebenschance. Er bückte sich vorsichtig, nahm das Papier aufund übergab es dem Russen. Der schob lässig und siegesbewusst sein Käppi mitdem Zeigefinger nach hinten, rückte seine Kalaschnikow in eine bequeme Stellungund ließ das Papier in seiner rechten Hosentasche verschwinden. Es dauerte nurein paar Sekunden, da holte der Russe die erste Zigarette aus der Hosentasche,er leckte gekonnt mit der Zungenspitze an der Zigarette entlang, trenntevorsichtig mit sichtbarer Geduld die Papierrolle von der Zigarette ab, kniffmit den Fingerspitzen die Enden ab und übergab meinem Vater die erste fertigeZigarette. Die zweite hatte er ebenso schnell fertig. Er nahm das Feuerzeug ausdem Sand, schnipste ein paar Mal, brachte schließlich eine Flamme zustande undhielt sie meinem Vater vor die Nase. Der zog einige Male kräftig, und erwecktedie Zigarette zum Leben. Seine „Lunte“ qualmte mächtig. Er war stolz. MeinemVater entwich die Todesangst und er bekam wieder Farbe im Gesicht. Wir kanntennun das erste russische Wort „Prawda“, es bedeutete Wahrheit und so hieß aucheine große russische Zeitung, die wohl Zigarettenpapierqualität hatte.
Nach diesem Schreck und unserem Glück, die erste feindlicheBegegnung lebend überstanden zu haben, liefen wir weiter die Strandwüste entlang.Richtung Nordost. ...
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... Vater war die ganze Nacht nicht aufgetaucht. Erst imMorgengrauen kam er unverhofft aus dem Dickicht. Er trug keine Mütze, keinenLedergürtel mit Pistolentasche, keine Achselklappen und keine Stiefel mehr.Alle, die noch Waffen hatten, wurden überzeugt, diese wegzuwerfen, und soschnell wie möglich in Zivilkleidung in verschiedene Richtungen zu gehen, umnicht den Feinden in die Hände zu fallen. Darüber hatte es in der Nacht heftigeAuseinandersetzungen gegeben. Eine Gruppe hatte sich entschieden, den Feindenunter keinen Umständen in die Arme zu laufen. Sie wollten entweder bis zumletzten Blutstropfen kämpfen oder sich schon vorher mit allen Angehörigenumbringen.
Wir verließen sofort das Versteck, nahmen hastig nur dasNotwendigste von unserem Gepäck und entfernten uns von den anderen. Es musseiner der ersten Maitage gewesen sein. Die Sonne wärmte uns schon und tat unsallen gut nach der kühlen und aufregenden Nacht. Unsere Marschrichtung warklar. Der Feind kam aus Südwest, also ging es nach Nordost in Richtung Darß.Wir mussten die Nacht im Deckbusch nahe bei Körkwitz verbracht haben. AnEinzelheiten vom Vortag, wie wir dorthin gelangt sind, kann ich mich nicht mehrerinnern. Eine große Straße hatten wir überquert.
Nach ein paar Stunden Eilmarsch waren wir mit unserem Habund Gut am Ostseestrand Dierhagen angelangt. Wir glaubten, es geschafft zuhaben und dem Feind noch einmal entwischt zu sein. Vater verschwand für eineWeile, während wir uns am breiten Strand im Sand ausruhten. Die Sonne schienunbarmherzig auf uns herab. Unsere Winterbekleidung war lästig und wurde aufden Rucksack geschnürt. Vater kam wieder und hatte sich alte Sachen aus dem Ortbesorgt. Nun konnte es weitergehen. Als wir einige Schritte gegangen waren,hörten wir hinter uns Geräusche. Wir sahen uns erschrocken um und erkanntenunsere „Beschützer“ in ihren unverkennbaren schwarzen Uniformen derHitlerjugend. Nur einige hatten ihren Kriegsschmuck schon abgelegt. Als sieheran waren, versuchte Vater erneut, sie von der Unsinnigkeit ihres Vorhabens,uns auf diese Weise zu beschützen, zu überzeugen. Die Jungs waren enttäuscht.Sie wollten dann mit einem der Fischerboote, die überall herumlagen, dieschwedische Küste erreichen. Auch ein solches Unternehmen kam einem Selbstmordgleich, denn in der Ostsee gab es mehr Treibminen als Fische. Die Jungs warenfür uns eine Gefahr. Sie blieben zurück. Einige ließen sich jedoch nicht davonabhalten, unsere Sachen zu tragen.
Was nun geschah, hat sich in meinem Gedächtnis als Fluchtdurch brennend heißen Wüstensand eingegraben. Hunger, Durst und Erschöpfungwaren unsere Begleiter. Mir war so elend zumute, daß ich mehrfachzusammenbrach. Nach einigen Kilometern wurden bereits die ersten Gepäckstückevergraben. Später waren es wertvolle Familienandenken, Fotos, Schmuck und alleKleidungsstücke, die im Moment nicht von Nutzen waren. Wir markierten dieStellen durch Pfähle, die wir in den Sand schlugen und glaubten an einenspäteren Wiederfund. Trotz alledem waren wir froh, dass wir den Russenentkommen waren.
Die Jungen, die uns noch immer begleiteten, hatteninzwischen die Uniformen durch andere Kleidung ausgetauscht. Nachdem wir dieSteilküste bei Ahrenshoop hinter uns gelassen hatten, fuhr uns erneut derSchreck in die Glieder: Dort, wo die Bäderstraße sich für ein paar Kilometerdem Strand nähert, gewahrten wir eine kleine Militärkolonne. Das waren Russen.Richtige Russen!
Sie nahmen zunächst keine Notiz von uns. Eine Zeit langschien es so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass wir so friedlichnebeneinander her spazierten.
„Ob sie uns noch nicht entdeckt haben?“, fragte ich.
„Sicher haben sie uns schon viel eher entdeckt als wir sie“,sagte Vater.
Aus der Kolonne löste sich eine Gestalt und kam über dieDünen direkt auf uns zu. Wir standen wie angewurzelt und müssen diesen Menschenwie einen Außerirdischen angeglotzt haben. Eine unbeschreibliche Angst hattenwir. Der Russe hatte seine Kalaschnikow lässig über der Schulter und das Käppitief über der Stirn. Er kam direkt auf meinen Vater zu und sprach ihn an:„Prawda, Prawda, Prawda!“
Vater kramte mit zitternden Händen in seinen Taschen undlegte alles vor seine Füße in den Sand. Er glaubte, der Russe wollte seineWertsachen, so wie die Leute es berichtet hatten. In dem weißen Sand lagen:seine silberne Taschenuhr, eine Armbanduhr, ein Taschenmesser, ein Kompass undkleine Bleistifte, ein Notizbuch, ein Taschentuch, ein leeres Zigarettenetuiund ein Feuerzeug. Der Russe fuchtelte wütend mit seiner Kalaschnikow herum undrichtete die Waffe auf meinen Vater. Wir standen etwas abseits von denStreithähnen und waren vor Angst wie gelähmt. „Prawda“, brüllte er, „Prawda!“
Vater begann mit letzter Verzweiflung, sämtliche Taschenumzudrehen, um zu beweisen, dass er schuldlos war und alles hingelegt hatte.Dabei starrte er auf die Mündung der Maschinenpistole. Ihm war entgangen, dasser die kleine Rolle Toilettenpapier dabei herausriss. Über das eben nochwutverzerrte Gesicht des Russen huschte ein freundliches Grinsen. Vatererkannte seine Überlebenschance. Er bückte sich vorsichtig, nahm das Papier aufund übergab es dem Russen. Der schob lässig und siegesbewusst sein Käppi mitdem Zeigefinger nach hinten, rückte seine Kalaschnikow in eine bequeme Stellungund ließ das Papier in seiner rechten Hosentasche verschwinden. Es dauerte nurein paar Sekunden, da holte der Russe die erste Zigarette aus der Hosentasche,er leckte gekonnt mit der Zungenspitze an der Zigarette entlang, trenntevorsichtig mit sichtbarer Geduld die Papierrolle von der Zigarette ab, kniffmit den Fingerspitzen die Enden ab und übergab meinem Vater die erste fertigeZigarette. Die zweite hatte er ebenso schnell fertig. Er nahm das Feuerzeug ausdem Sand, schnipste ein paar Mal, brachte schließlich eine Flamme zustande undhielt sie meinem Vater vor die Nase. Der zog einige Male kräftig, und erwecktedie Zigarette zum Leben. Seine „Lunte“ qualmte mächtig. Er war stolz. MeinemVater entwich die Todesangst und er bekam wieder Farbe im Gesicht. Wir kanntennun das erste russische Wort „Prawda“, es bedeutete Wahrheit und so hieß aucheine große russische Zeitung, die wohl Zigarettenpapierqualität hatte.
Nach diesem Schreck und unserem Glück, die erste feindlicheBegegnung lebend überstanden zu haben, liefen wir weiter die Strandwüste entlang.Richtung Nordost. ...
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Als plötzlich ein Russe vor uns stand und „Prawda, Prawda!" schrie, dachten wir, er wollte unsere Habseligkeiten haben. Aber nein, er verlangte nach Zeitungspapier, um sich eine Zigarette drehen zu können. Am Ende bot er sogar meinem Vater eine Zigarette an und sie qualmten um die Wette.
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